Wehmut und Erinnerung in verlorenen Welten
Lockdown ist Lockdown ist immer noch Lockdown. Ein bisschen Freiheit gab es noch während der VIENNALE, die nach eineinhalb Wochen Spielzeit am 1. November mit dem Dokumentarfilm „The Truffle Hunters“ (I, USA, GR) von Michael Dweck und Gregory Kershaw schloss. Ein schöner besinnlicher Film, in dem alte Männer mit ihren Hunden durch die Wälder und Wiesen Norditaliens wandern, um nach den kostbaren Knollenpilzen zu wühlen. Die Trüffelsucher hängen an ihrer Arbeit, ihren Hunden, der Landschaft und den Abenteuern, so dass sie sich zur Not heimlich in der Nacht bei Wind und Wetter aus dem Haus schleichen, wenn man ihnen nicht mehr zutraut, dass sie ihren Weg durch den Wald finden. Die Wehmut nach den vermeintlich guten alten Zeiten verbindet den Film mit der ihn heute umgebenden Realität. Die alte Tradition des erdverbundenen Treibens wirkt neben den im Film parallel dargestellten Luxusartikel-Onlineauktionen wie der Vergleich der heutigen stubenhockenden Homeoffice-Kunstwelt mit dem vielleicht für immer verlorenen quirligen Prä-Corona-Chaosalltag, mit schreiende Schulkindergruppen in der U-Bahn, dem sonntäglichen Flohmarkt und fußballspielende Kids. Und natürlich ist es mit dem Trüffeljägerfilm wie im heutigen Corona-Alltag. Die Sucherei der Männer ist und war nicht immer schön, sondern meistens kalt, feucht, schmutzig und frauenausschließend, und auch die Vor-Corona-Normalität hatte ihre Schattenseiten. Andererseits erscheint die Parallelwelt im Film, nämlich die der Händler mit ihrer kapitalistisch aufgeheizten Fachsimpelei über Naturprodukte, an deren mühsamem Aufspüren sie keinen Anteil haben, im Vergleich zu den bescheidenen und abgeschiedenen Leben der Senioren, die mit ihren Hunden durch die modrigen Landschaften streifen, überheblich und realitätsfern. Und auch die heutige Homeoffice-Welt, die von unseren Regierenden genüsslich heraufbeschworen wird, ist oft ebenso realitätsfern. Denn immense Teile der Bevölkerung sind davon ausgeschlossen: weil sie nicht vom Computer aus nach Rüben und Spargel graben, Brot und Kuchen backen oder Industrieprodukte herstellen können; weil die Begeisterung für digital verarbeitete und online verfügbare Theater- und Musikprogramme begrenzt ist; weil das feste monatliche Einkommen fehlt. So oder so, die Welt im Wald, auf dem Land, mit Erde, Pflanzen und Tieren scheint für die meisten für immer verloren zu sein, weil zunehmend mehr Menschen arbeits- und auch freizeittechnisch auf ihre Wohnungen reduziert werden. Deshalb wohl auch das Entzücken über „The Truffle Hunters“, der als Abschlussfilm der VIENNALE einer neuen Ära vorausging. Am Tag nach VIENNALE-Schluss wurde ein Terroranschlag in Wien verübt und am übernächsten Tag startete eine neue Corona-Lockdown-Welle, die bis heute anhält.
Einen krassen Kontrast zu den Weiten der Landschaft von „The Truffle Hunters“ bildet die österreichische Doku „Jetzt oder morgen“ von Lisa Weber, die im Wiener Gemeindebau angesiedelt ist. Die im Film portraitierte Claudia, die mit ihrem kleinen Sohn, der Mutter und dem Bruder zusammenwohnt, schlägt sich so durch, lebt im Prinzip wie im Lockdown, verlässt die beengte Wohnung nur selten. Sie redet von Jobs und Stellensuche, während sie viel raucht, sich hübsch macht und schmalzige Musik hört. Claudia hofft auf ein Wunder, das ihr die Songtexte, die sie mitträllert, zu versprechen scheinen. Aber es ist keine Naivität, die sie so denken und fühlen lässt, sondern der unbedingte Wille, sich nicht aufzugeben. Alles ist möglich, wenn man nur fest genug daran glaubt; davon geht Claudia aus.
Marie, Bertrand und Christine haben es in „Effacer l’historique“ (F, B) von Benoit Delépine und Gustave Kervern auch nicht einfach, hangeln sie sich doch von Job zu Job und Beziehung zu Beziehung. Ihnen macht aber vor allem das digitale Zeitalter mit Cyber-Mobbing und ähnlichem Drangsal das Leben schwer. Ihre ausgeklügelte Gegenwehr gegen das zerstörerische System wird satirisch in Szene gesetzt und macht aus dem bedrückenden Alltag der Freund*Innen eine anarchisch-befreiende Komödie. Eigentlich ein Kampf der analogen mit der digitalen Welt, der ebenfalls gut zur derzeitigen Coronakrise passt.
Es gab natürlich bei der diesjährigen VIENNALE auch das ganz große Kino mit Filmen, die bereits bei der BERLINALE Erfolg hatten, so wie der US-amerikanische Beitrag „First Cow“ von Kelly Reichardt. Es wird zwar in der Beschreibung der Story betont, dass die beiden Männer, die hier im frühen 19. Jahrhundert an der nordamerikanischen Frontier auf nicht ganz legale Weise zu bescheidenem Wohlstand kommen, wirklich nur gute Freunde sind, aber die Anfangs- und Endszenen deuten zumindest auf zärtliche Verbundenheit hin. Bestechend sind jedenfalls die wunderschönen Landschaftsbilder, die poetische Sprache und die Darstellungen des häuslichen, landwirtschaftlichen und handwerklichen Alltags der beiden Männer. Und hier schließt sich der Kreis zu „The Truffle Hunters“, die ebenfalls in ihren abgenutzten Outdoorklamotten am glücklichsten sind – womit wir wieder bei den verlorenen Welten wären, mal die des 21. Jahrhunderts, ein andermal jene, die bereits 200 Jahre zurückliegen. Jedoch scheinen beide heute gleichmäßig unerreichbar.
Ein anderes USA-Highlight und ebenfalls ein BERLINALE-Erfolg ist „Shirley“ von Josephine Decker. Das Verhältnis der zwei Frauen, um das es im Prinzip geht (auch wenn der Ehemann der Protagonistin von „Call Me by Your Name“-Papa Michael Stuhlbarg grandios dargestellt wird), ist von 1950er Scheinidylle, Depression, Betrug und Verrat geprägt und ist teilweise so unheimlich, dass man manchmal lieber nicht hinsehen möchte, wenn sich der Psychohorrorthriller um die manipulative Schriftstellerin Shirley, dargestellt von der wunderbaren Elisabeth Moss, und ihre scheinbar naive Assistentin Rose (Odessa Young) genüsslich entspinnt.
„Hochwald“ (A, B) von Evi Romen, schließt da fast nahtlos an. Ein junger Mann, der nach einem tragischen Vorfall in sein Heimatdorf in Südtirol zurückkehrt, und sich auf der Suche nach Sinn und Bedeutung nirgendwo zugehörig fühlt. Noch was herausragend Österreichisches ist „The Trouble With Being Born“ (in Kooperation mit D) von Sandra Wollner, der auf der BERLINALE Weltpremiere hatte, dort mit dem Encounters-Spez^ialpreis der Jury ausgezeichnet wurde und inzwischen weitere Auszeichnungen erhalten hat, unter anderem den Diagonale-Preis Spielfilm sowie den VIENNALE-Spezialpreis der Jury. In verträumter Kameraeinstellung geht es in dem Fantasy-Drama um Elli, ein roboterartiges Fabelpuppenwesen, das bei ihrem Vater im Wald nicht weit von Wien wohnt. Er hat sie erschaffen, sie ist seine Erinnerung und Phantasie.
Von Fetischcharakteren und -objekten handeln die meisten von Jan Soldats Filmen. Sein neuer österreichisch-deutscher Beitrag, der bei der VIENNALE dabei war, ist „Wohnhaft Erdgeschoss“, eine Doku über einen Anfangfünfzigjährigen aus der DDR, der seit der Wende in seine private Welt aus schwulen Pornos und Autoaggression abgedriftet ist. Andere queere Filmbeiträge, die bei der VIENNALE gezeigt wurden, sind unter anderem „Si c’était de l’amour“, „Nackte Tiere“, „Never Rarely Sometimes Always“ und „Rizi“, die allerdings bereits in vorigen Ausgaben von Lambda besprochen wurden (1/2020 & 2/2020).
Preise wurden bei der VIENNALE auch verliehen: Die Auszeichnung als bester österreichischer Film ging an Hubert Sauper für „Epicentro“ (A, F), der der die Geschichte und Gegenwart Kubas verarbeitet. Den Spezialpreis der Jury erhielt „The Trouble With Being Born“ von Sandra Wollner (im Text weiter oben erwähnt). Mit dem VIENNALE-Preis der STANDARD-Leserjury wurde „Selva trágica“ (MEX, F, CO) von Yulene Olaizola geehrt. Darin geht es um eine Frau auf der Flucht, um Unterdrückung und Ausbeutung, und das alles spielt sich in einem magischen Regenwald ab. Den Fipresci-Preis der internationalen Filmkritik holte sich Mariusz Wilczynski aus Polen für „Zabij to i wyjedź z tego miasta“. Der Animationsfilm erzählt eine persönliche Geschichte, die auf Kindheitserinnerungen und Albträumen basiert. Über den Erste Bank MehrWERT-Filmpreis freuten sich Georg Tiller und Maéva Ranaivojaona für „Zaho Zay“ (A, F, RM), eine filmische Meditation über Freiheit und Gefangenschaft, Zufall und Ordnung. Die Erste Bank MehrWERT-Filmpreisanerkennung wurde an den österreichischen Beitrag „Bitte Warten“ von Pavel Cuzuioc vergeben, der einen humorvollen Roadmovie um Kommunikationstechnologie am osteuropäischen Land gedreht hat.