In ihrem zweiten Episodenroman erzählt Connie Haller von einsamen Figuren, die auf ihren alltäglichen Streifzügen ungleichen Verwandten und gegensätzlichen Vertrauten begegnen
Ging es in „23 Leben“ noch um die titelgebende Anzahl von Figuren, hat sich im kürzlich veröffentlichten „Die Butter und der Schlitten“ die Zahl der Hauptcharakter*innen, aus deren Perspektiven erzählt wird, reduziert: „Eine bewegende Geschichte von fünf Menschen“ ist der Untertitel. Die im vergangenen Jahr erschienen Episoden veröffentlichte der Kampenwand Verlag unter dem Namen C.P. Haller; das neue Buch, ebenfalls bei Kampenwand erschienen, stammt von Connie Haller. Autorin beider Romane ist ein und dieselbe Person: 1982 in Dresden geboren, gelernte Erzieherin und Ärztin, lebt mit ihrer Frau in München – letztere Angabe fehlt allerdings im zuletzt erschienenen Roman.
Ziehen sich in „23 Leben“ Szenen, die von Missverständnissen und Kommunikationsunfähigkeit geprägt sind, durch das Romanleben, so ist „Die Butter und der Schlitten“ vor allem von Einsamkeit bestimmt, die die Figuren streckenweise sogar handlungsunfähig macht. Der Lesestoff taucht vollständig und tief in das Innenleben jeder*jedes einzelnen Protagonist*in ein. Die Handlung startet mit Emma, 91 Jahre alt, die von ihrem kleinen Balkon aus auf das Treiben in der Straße blickt. Die Figur der alten Frau, in deren Kapiteln es jeweils Rückblicke auf ihre eigene Kindheit in den 1930ern und 1940ern gibt, basiert auf den Erlebnissen einer realen Person (H. Weitzmann, geb. 1928), wie man aus dem Buch erfährt. Als Emma einen Nachbarn mit Tochter vom Balkon aus beobachtet, erinnert sie sich an ihren eigenen Verlust der Mutter, die sie zu Weihnachten 1930 als Zweijährige das letzte Mal sah, als diese nach einer Operation im Krankenhausbett lag. Leonard ist der Mann, den die alte Frau vom Balkon aus beobachtet, als dieser mit dem Trotzanfall seiner vierjährigen Tochter zu tun hat. Das Kindergeschrei bringt zudem die schöne Joy aufs Parkett, die sich gerade aus ihrem Bett quält, in dem noch das „Dating-App“-Abenteuer der vergangenen Nacht liegt. Beim Verlassen der Wohnung beantwortet sie die Handy-Nachricht von Violetta, die Joy noch nicht leibhaftig getroffen hat, von deren Online-Bildern sie sich aber eine „heiße Nacht“ verspricht. Violetta wiederum, die von ihrer Wohnung aus ebenfalls das Kindergeschrei von draußen hört, ist „schwer verliebt“ in die attraktive Joy, entspricht selbst zwar nicht dem versprochenen Online-Bild von „schlank und sexy“, spürt aber trotz aller virtuellen Entfernung und eigener Schummelei, die sie eigentlich auch von ihrem Online-Pendant erwarten dürfte, „eine intensive Nähe“ zu Joy, von der sie sich, obwohl sie sie gar nicht kennt, „die wahre Liebe“ verspricht.
Alle bisher beschriebenen Hauptcharakter*innen der ersten 24 Seiten des Buches leben als Singles. Auf Seite 25 gibt es einen kurzzeitigen Bruch mit dieser Tradition, als Martin aus der Garage fährt und neben ihm seine Ehefrau sitzt. Die Verbindung zu den bisher beschriebenen Figuren besteht darin, dass Martin auf einem Datingportal ebenfalls auf Joy gestoßen ist und mit ihr „sexy gechattet“ hat. Damit endet Kapitel I, Teil 1. Der zweite Teil des ersten Kapitels beginnt wieder mit Emma und geht mit den anderen bereits beschriebenen Charakter*innen weiter. Bis Seite 50 hat sich alles im Oktober abgespielt, mit dem ersten Teil von Kapitel II geht es im November weiter. Kapitel III kommt im Dezember an, Kapitel IV spielt im Januar, Kapitel V im Februar. Kapitel VI – das Schlusskapitel – hat vier Teile, die im März stattfinden, und endet mit Emma und ihren Erinnerungen an das Nachkriegsjahr 1946. Alle Kapitel und Teile spielen sich an einem Montag ab, abwechselnd morgens und abends.
Insgesamt sind Connie Hallers Romangeschichten Protokolle einsamer Charakter*innen, die jede*r für sich auf der Suche nach Kontakt, Verbindung, Liebe und Sinn sind. Auf unterschiedlichste Art und Weise sind sie durch Zufälle, Unfälle, Affären, Internetchats, Verzweiflung oder Schicksalsschläge zeitweilig miteinander verbunden, manchmal auch nur dadurch, dass sie sich flüchtig begegnen und trotzdem Bezug aufeinander nehmen.
Nicht immer konnte ich den Charakter*innen folgen, da sich die Geschichten so eng überschneiden, dass ich nicht immer wusste, wer wann genau gemeint ist – vor allem in den Nebenhandlungen, die nicht die Hauptfigur des jeweiligen Abschnitts betreffen. Andererseits erfährt man viel aus den Leben einzelner, was sie bewegt, warum sie sich von einander abwenden, welchen Irrungen und Wirrungen sie unterliegen, um ans Ziel ihres Weges zu kommen. Der Roman zeigt, wie flüchtig die Entscheidung für oder gegen jemanden sein kann und bestätigt, dass der erste Eindruck nicht immer der beste oder richtige ist.
Connie Haller: Die Butter und der Schlitten. Kampenwand Verlag, Frankfurt 2024.