Ein Ratgeber zum Coming-out
Es ist eine Sache, zu wissen, wer ich bin. Es ist eine andere, das auch zu kommunizieren. Was bzw. wieviel erzähle ich wem, wann und wie? Was, wenn ich mich gar nicht outen will? Berechtigte Fragen, die sich jede*r vor einem Coming-out stellen können sollte. Genau deshalb ist es so schwerwiegend, wenn man von einer anderen Person geoutet wird – es ist ein Kontrollverlust. Kontrolle über das Was, Wieviel, Wem, Wann und Wie. Habe ich allerdings die Möglichkeit selbst zu entscheiden, kann ich mir meine eigenen Gedanken und Wünsche überlegen, wie mein Coming-out bestenfalls ablaufen sollte.
Folgender Ratgeber basiert gänzlich auf eigenen Erfahrungen und kann von Person zu Person abweichen.
WAS
Zuallererst kann ich für mich selbst entscheiden, ob ich mich überhaupt in meinem sozialen Umfeld outen möchte bzw. ob ich (momentan) in der Lage bin, so einen wichtigen Teil von mir selbst zu kommunizieren. Selbst wenn ich mir sicher bin, keine negativen Konsequenzen befürchten zu müssen, kann es trotzdem ein wahnsinnig schwieriges Vorhaben sein und viel Überwindung kosten. Sollte ich mir unsicher sein, ob Personen positiv reagieren würden, sollte ich abschätzen, wie wichtig es mir ist, dass diese bestimmte Person davon Bescheid weiß und ob es die Energie und den Stress wert wären. Vor allem bei Minderjährigen bzw. Personen, die noch bei Eltern/Erziehungsberechtigten wohnen, ist Achtsamkeit geboten. Sind diese Bezugspersonen schon im Vorhinein queerfeindlich, wäre es besser, so lange auf ein Outing zu verzichten, bis ein eigenes Zuhause besteht. Der Bedarf nach einem Coming-out kann sehr groß sein, aber die eigene Sicherheit und Unterkunft muss immer an erster Stelle stehen.
WIEVIEL
Habe ich mich dazu entschieden, mich aktiv zu outen, kann ich überlegen, was ich denn genau kommunizieren möchte. Habe ich ein bestimmtes Label, oder reicht es, wenn die Person den Überbegriff (wie z.B. „homosexuell“) weiß? Wenn ich mehrere Labels bzw. mehrere queere Identitäten habe, möchte ich alle oder nur bestimmte kommunizieren? Manchmal ist es besser, nur so viel wie nötig von sich preiszugeben, bzw. einfacher, einen Überbegriff zu nennen, anstatt die gegebenenfalls nicht allgemein bekannte Identität (wie z.B. Pansexualität) zu erklären. Außerdem kann ich mir überlegen, ob ich im Zusammenhang mit der Kommunikation meines Labels auch bestimmte Erwartungen vermitteln möchte (z.B. das Verwenden von korrekten Pronomen/Namen). Darüber hinaus ist die Offenbarung einer queeren Partnerschaft ein anderes Gebiet als die Kommunikation eines Labels. Ein Label kann möglicherweise noch eher akzeptiert werden als die Realität einer tatsächlichen queeren Beziehung, daher ist Achtsamkeit geboten, nicht nur für das eigene Wohl, sondern auch das der Partner*in(nen).
WEM
Nachdem ich mich dazu entschieden habe, dass ich etwas kommunizieren möchte, sollte ich mir Gedanken machen, wer denn überhaupt Bescheid wissen soll. Habe ich Freund*innen, denen ich meine Identität anvertrauen kann? Kann ich mich darauf verlassen, dass meine Eltern mich akzeptieren, ohne Konsequenzen zu befürchten (vor allem als Minderjährige*r)? Kann ich in der Arbeit von meiner Partnerschaft erzählen und weiterhin eine gute Beziehung zu meinen Kolleg*innen führen? Gerade am Arbeitsplatz ist viel Umsicht geboten. Natürlich wäre es ideal, nicht nur im privaten Milieu authentisch sein zu können, allerdings ist es deutlich schwieriger, queerfeindliche Situationen im Arbeitsalltag zu bewältigen, da man sich aus diesem Umfeld nicht einfach entfernen kann.
Eine niederschwellige Möglichkeit herauszufinden, ob eine Person queerfreundlich ist bzw. positiv auf ein Coming-out reagieren würde, ist es, ein queeres Thema (ganz nebensächlich) in eine Konversation einzubauen. Beispiele dafür wären ‚ein Bekannter von mir hat jetzt seinen Freund geheiratet‘ oder ‚bald ist wieder die Regenbogenparade am Ring‘. Wie eine Person auf solche Themen reagiert, sagt viel darüber aus, wie diese Person mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das eigene Coming-out reagieren würde.
WANN
Den ‚richtigen Zeitpunkt‘ für ein Coming-out gibt es meistens nicht. Es gibt kein richtiges Alter und vor allem kein ‚zu spät‘. Jede*r hat eine eigene Geschwindigkeit, zu sich selbst zu finden, manche früher, manche später, aber ein fortgeschrittenes Alter sollte nicht davon abhalten, sich im sozialen Umfeld offenbaren zu können. Es muss auch nicht abgewartet werden, ob das aktuelle Label das ‚richtige‘ ist. Labels können sich, genau wie andere Facetten eines Menschen auch, jederzeit und wiederholt verändern. Es ist somit absolut kein Fehler, sich mit einem Label zu outen und kurze oder lange Zeit später ein oder mehrere andere Labels zu verwenden. Sobald das Bedürfnis nach Kommunikation der eigenen Identität entsteht, wird sich ein geeigneter Moment finden, egal ob dieser Moment Tage, Monate oder Jahre in der Zukunft liegt.
WIE
Schlussendlich kann ich überlegen, auf welche Art ich mich oute, wie zum Beispiel verbal oder nonverbal. Ein nonverbales Outing könnte etwa sein, dass ich einen Regenbogen-Pin an meiner Kleidung trage, oder auf meinen sozialen Medien bestimmte Inhalte teile. Ein nonverbales Outing hat den Vorteil, eigene Identitäten bzw. einen engen Bezug zu LGBTIQ-Themen nicht aktiv kommunizieren zu müssen, allerdings zieht dies möglicherweise invasive Nachfragen mit sich. Ein verbales Outing geht aktiv von der betroffenen Person aus, und kann schriftlich über Handynachricht/Mail erfolgen oder durch ein Telefonat bzw. persönlich. Die persönliche Variante des Coming-out ist wahrscheinlich die stressigste, kann aber auch die am schnellsten zufriedenstellende Variante sein, wenn ich direkt positives Feedback erhalte.
Alles in allem ist das Coming-out wahrscheinlich eines der schwierigsten und komplexesten Themen im Zusammenhang mit queerer Identität, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Muss ich zwingend meinen Mitmenschen Bescheid geben? Absolut nicht. Sollte ich allen Bescheid geben können, wenn ich das möchte, ohne Konsequenzen zu fürchten? Definitiv schon.