Ich bin in einem kleinen Dorf in Niederösterreich aufgewachsen. Heute bin ich 26 Jahre alt und identifiziere mich als bisexuelle Frau. Als Kind kannte ich keine einzige queere Person. So etwas gab es damals einfach nicht, schon gar nicht offen gelebt. Trotzdem haben mich queere Charaktere schon immer fasziniert. Ich erinnere mich noch genau, als ich mit zehn Jahren eine Folge Reality-TV geschaut habe, wo es um eine Jugendliche ging, die sich in ihre beste Freundin verliebt hat. Ich konnte damals nicht benennen warum, aber diese Folge hat mich so fasziniert, dass ich sie eine Woche lang täglich im Internet nachgeschaut habe. Ich weiß bis heute genau, wie die Charaktere aussahen.
Das war bei weitem nicht der einzige Hinweis für meine Queerness. Queere Charaktere waren in Filmen, Serien oder Bücher automatisch meine Lieblingscharaktere. Das Wort „schwul“ als Schimpfwort empfand ich als persönliche Beleidigung. Als das Lied „I kissed a Girl“ von Katy Perry veröffentlicht wurde, konnte ich es nicht hören, ohne rot zu werden. Und trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass ich eventuell nicht heterosexuell sein könnte. Denn queere Personen im echten Leben gab es ja gar nicht.
Als ich 13 Jahre alt war, wurde im Aufklärungsunterricht mit der Biologie-Lehrerin unter anderem Homosexualität besprochen. Dies geschah großteils auf eine im Nachhinein betrachtet sehr progressive Art und Weise. Ein Satz ist bei mir jedoch hängen geblieben: „Homosexualität ist ganz natürlich, aber Bisexualität … das ist ein Blödsinn, das ist eine Phase.“ Kaum ein Jahr später verliebte ich mich das erste Mal in ein Mädchen. Neben der anfänglichen Verwirrung hatte ich vor allem den Satz meiner Biologie-Lehrerin im Kopf … Wenn Bisexualität nicht existiert, konnte ich also nur lesbisch sein, war damals meine logische Schlussfolgerung. Spätestens als ich mich aber einige Zeit später in einen Jungen verliebte, wurde aber klar, dass auch das Label lesbisch nicht zu mir passte. Aber Bisexualität existierte doch nicht! So wechselte ich jahrelang je nach Schwärmerei zwischen den Labels hetero und lesbisch hin und her, und doch fühlte sich nichts davon richtig an.
Über diese verwirrenden Gefühle zu sprechen, gestaltete sich als schwierig, da mein gesamter Freundeskreis in meiner Klasse war und diesen Aufklärungsunterricht ebenso miterlebt hatte. Als ich einmal vorsichtig versuchte, mit meiner besten Freundin über das Thema zu sprechen, sagte sie mir klipp und klar, dass das nicht sein könne, denn Bisexualität existiert doch nicht. Auch kannte ich damals keine Menschen, denen es ähnlich ging wie mir, die ebenso mit ihrer Sexualität kämpften. Ich habe es schlussendlich doch geschafft, mich zu outen und meine Freundinnen davon zu überzeugen, dass sich die Biologie-Lehrerin geirrt hatte. Aber dieser wahrscheinlich recht unüberlegte Satz meiner Lehrerin hat mich jahrelang mühsame Neubewertung gekostet.
Mein Outing als bisexuell hatte ich also in meinem Heimatdorf, als queer sehe ich mich allerdings erst seit meinem Umzug nach Wien. Denn am Land habe ich mich zwar in Personen unterschiedlichen Geschlechts verliebt, jedoch lange im Geheimen und dies war auch mit einem Gefühl der Scham besetzt. Erst in Wien habe ich eine Community und somit auch Rollenvorbilder gefunden, durch die ich langsam lernte, stolz auf meine Sexualität zu sein und diese als schönen Teil meiner Persönlichkeit vollständig zu akzeptieren. In Wien durfte ich ganz viele andere bisexuelle Menschen treffen, die teils ähnliche Erfahrungen wie ich machen mussten und mit denen ich mich austauschen konnte. In Wien verstand ich erstmals die politische Komponente meiner Queerness und informierte mich über queere Geschichte.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diesen Prozess am Land nicht bzw. nicht so schnell geschafft hätte. Am Land ist es ohne queere Zentren kaum möglich, andere queere Leute zu treffen, sich auszutauschen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu erleben. Auch Online-Dating ist aufgrund der sehr geringen Anzahl an queeren Frauen in den verschiedenen Apps schwierig, da ist der Stash sehr schnell leer geswipt.
Ohne Möglichkeit, andere queere Menschen kennenzulernen, habe ich mich am Land sehr alleine gefühlt. Dabei war ich das überhaupt nicht. Ich finde nach und nach heraus, dass es auch damals sehr wohl queere Menschen am Land gab. Diese waren nur genauso wie ich ungeoutet. Da war das Mädchen in der Klasse über mir, ich sehe sie heute manchmal bei queeren Veranstaltungen. Da war der Junge in meiner Parallelklasse, der sich nach seiner Schulzeit als schwul outete. Da war ein Mädchen eine Klasse unter mir, das sich heute stolz als bisexuell identifiziert. Sogar eine enge Freundin aus der Schulzeit outete sich vor einiger Zeit als bisexuell. Leider hat sich niemand von uns getraut, sich bereits in der Schulzeit zu outen. Ich habe mit niemandem über deren Gründe dafür gesprochen, aber ich vermute, dass die Angst vor Ausgrenzung und das Gefühl, alleine zu sein, auch bei ihnen mitgespielt haben.
Dabei wären diese Gefühle im Nachhinein betrachtet unnötig gewesen. Wir waren nie allein und wir wären wahrscheinlich auch nicht ausgegrenzt worden. Hätte sich nur eine*r von uns getraut, sich schon während der Schulzeit zu outen, hätten auch wir anderen vielleicht den Mut gefunden, früher zu uns zu stehen. Eine einzige geoutete Person hätte eventuell für alle anderen queeren Personen als Rollenvorbild dienen können und hätte den Unterschied zwischen Scham und Akzeptanz gemacht. Aber es braucht natürlich eine große Portion Mut, diese erste Person zu sein, die man im Teenager-Alter vielleicht noch nicht hat.
Es braucht am Land nach wie vor dringend positive Möglichkeiten, andere queere Menschen kennenzulernen und sich auszutauschen. Wahrscheinlich ist die Situation in den letzten 15 Jahren etwas entspannter geworden, aber ich habe für diesen Artikel im Internet recherchiert und es gibt nach wie vor keine queeren Zentren in der Nähe meines Heimatdorfes. Die nächste Möglichkeit, eine queere Veranstaltung zu besuchen, ist von meinem Heimatdorf eine Autostunde entfernt. So wird es queeren Menschen am Land auch heutzutage noch schwer gemacht, einander kennenzulernen. Dabei braucht es gerade diese Vernetzung so dringend, um ein Gemeinschaftsgefühl und in weiterer Folge Akzeptanz für die eigene Sexualität entwickeln zu können.