Als queerer Psychotherapeut arbeite ich auch mit geflüchteten LGBTIQ*-Menschen. Für manche von ihnen ist ein Coming-out nicht vorstellbar. Einige von ihnen haben Angst, von der eigenen Herkunftsfamilie verstoßen zu werden. Daher stellt sich die Frage, ob es neben dem Coming-out-Modell noch andere Varianten des Sich-Zeigens gibt. In Begegnungen mit BPoC (Black and People of Color) habe ich das Modell Inviting-in kennengelernt. Es wurde von Darnell L. Moore und Sekneh Hammoud-Beckett entwickelt. Moore ist ein queerer US-Schriftsteller und Aktivist, der sich viel mit Antirassismus, Feminismus und Queer of Color beschäftigt hat. Hammoud-Beckett ist Psychologin und Therapeutin. Sie wurde in Australien geboren und hat libanesische und muslimische Vorfahren. Der Ansatz ist kontrovers, es gibt auch viele queere Menschen, die Inviting-in ablehnen und darin einen Rückschritt sehen. Ich möchte in diesem Artikel Inviting-in vorstellen, wie es von Moore und Hammoud-Beckett beschrieben wurde, ohne es als besser oder schlechter zu bewerten.
Kein Zwang und kein Druck
Inviting-in versteht sich als Gegenmodell zum Coming-out. Beim Inviting-in entscheiden queere Menschen, ob und mit welchen Personen sie über ihre Sexualität und ihre geschlechtliche Identität sprechen wollen. Der wesentliche Unterschied zum Coming-out besteht in der Grundeinstellung und in der Beziehungsebene. Beim Inviting-in besteht kein Zwang und kein Druck, sich vor anderen zu outen. Sondern hier sprechen queere Menschen eine bewusste und selektive Einladung an bestimmte Personen aus und erzählen über ihr Queer-Sein. Anders als beim Coming-out kommt es hier zu einer Verschiebung der Machtverhältnisse. Beim Coming-out stellen sich queere Menschen dem Urteil anderer. Die anderen Personen können positiv, neutral, mit Schweigen oder mit Hass auf ein Outing reagieren. Beim Inviting-in behalten queere Menschen ihre Macht. Sie haben die Wahl und Entscheidungsfreiheit. Sie klären für sich vorher ab, ob und mit wem sie ihre Geschlechtsidentität oder ihr sexuelles Begehren teilen möchten. Sie müssen sich nicht verteidigen, warum sie sich gegenüber diesen, aber nicht vor anderen Menschen geoutet haben. Inviting-in kann auch bedeuten, auszuwählen, in welcher Stadt eine Person an einer Pride Parade teilnehmen möchte.
Keine mitleidigen Blicke
Dieses Modell steht teilweise im Kontrast zu Coming-out-Empfehlungen in vielen westlichen Ratgebern für Queers und von westlichen Psycholog*innen. In Ratgebern wird oft zwischen dem inneren und äußeren Coming-out unterschieden. Ein inneres Coming-out ist, wenn Queers die eigene sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität annehmen. Anschließend erfolgt das äußere Coming-out. Hier wird empfohlen, sich schrittweise möglichst allen Menschen (beginnend mit dem nahen Umfeld wie etwa den Eltern, Lehrpersonen oder Freund*innen) zu outen. Im Internet und in Ratgebern sind zum Coming-out alle möglichen Ratschläge zu lesen. Queere Menschen sollen sich auf keinen Fall verstecken. Ein möglichst umfassendes Coming-out gilt als Befreiungsschlag. Es wird als mutig und unbedingt notwendig angesehen. Je emanzipierter und geouteter queere Menschen sind, desto besser ist es, heißt es. Haben sich etwa Queers of Color nicht vollständig geoutet, ernten sie oft mitleidige Blicke von anderen Queers nach dem Motto „ach du Arme(r)“- „du scheinst dich noch nicht ganz von den kulturellen oder religiösen Zwängen deiner Herkunftsfamilie gelöst zu haben“.
Unterschiedliche Zugänge
Queers mit Migrationshintergrund sagen, dass Alternativen zum Coming-out-Konzept hilfreich sind, damit nicht immer nur eine dominante weiße Perspektive gesehen wird. Denn manche weiße queere Personen sprechen aus einer privilegierten Position: Sie haben einen guten Job, sind finanziell abgesichert, sprechen hervorragend Deutsch, haben liberale Eltern. Sie leben in einer schönen Wohnung in einer guten Gegend. In einer solchen privilegierten Position fällt ein Coming-out leichter. So gibt es beispielsweise queere Menschen, die nach Österreich geflohen sind und sich hier geoutet haben. Ihren Eltern oder Geschwistern, die im Herkunftsland geblieben sind, erzählen sie aber eine andere Geschichte. Wenn sie ihre Eltern besuchen, löschen sie auf ihrem Handy bestimmte Fotos und Dating-Apps, weil in ihren Herkunftsländern Homosexualität strafrechtlich verfolgt wird.
Das Konzept Inviting-in kann nach Ansicht der Befürworter*innen auch in anderen Bereichen angewendet werden und passt zum Thema Intersektionalität. Dabei geht es um verschiedene Formen von Diskriminierung, denen Personen gleichzeitig ausgesetzt sind – wie Queerfeindlichkeit, Transfeindlichkeit, Rassismus, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit/Ableismus, Altersdiskriminierung, Klassismus, Diskriminierung von Menschen mit Krankheiten etc. So gibt es beispielsweise Personen mit psychischen Erkrankungen, die sich entschieden haben, ihre Erkrankung gegenüber Arbeitskolleg*innen zu verschweigen, weil sie wissen, dass sie es dann noch schwerer haben. Auch Arbeitslosigkeit und Armut wird aus Scham und aus Angst vor Diskriminierung nicht selten verschwiegen.
Kritiker*innen sehen einen Rückschritt
Kritiker*innen von Inviting-in sagen, dass dieses Modell ein Rückschritt ist. Ihrer Ansicht nach ist es wichtig, dass viele queere Menschen in der Öffentlichkeit sichtbar sind. Denn je sichtbarer queere Menschen sind, umso mehr werden sie auch von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert. Inviting-in entspricht nach Ansicht von Kritiker*innen nicht dem „Pride“-Modell, wonach sich outen stolz mache. Inviting-in könne zu komplizierten Situationen und im schlimmsten Fall zu gespaltenen Persönlichkeiten führen. Bei Inviting-in bestehe die Gefahr, zu geschickten Lügner*innen zu werden. Denn Inviting-in bedeute, dass queere Menschen ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität selektiv geheim halten und sich nur manchmal ein wenig öffnen. Inviting-in kann nach Ansicht von Kritiker*innen nur eine positive Option sein, wenn sie als stufenweises Coming-out angesehen wird. Wenn Jugendliche beispielsweise von ihren Eltern oder Bezugspersonen gefragt werden, ob sie queer seien, ist es nach Ansicht von Coming-out-Befürworter*innen sinnvoll, ehrlich zu sein. Denn Unehrlichkeit kann zu immer größeren Problemen führen, weil damit falsche Erwartungshaltungen geschürt werden. Andererseits ist Inviting-in eine Einladung für die LGBTIQ*-Community für Toleranz gegenüber Personen, die sich noch nicht ganz geoutet haben.
Auch wenn sich das Konzept Inviting-in als Gegenmodell zum Coming-out versteht, schlage ich vor, dass wir uns nicht auseinanderdividieren lassen, sondern dass wir aufeinander zugehen und Empathie für unterschiedliche Wege und Zugänge entwickeln. Für manche Menschen passt ein Coming-out, andere bevorzugen ein Inviting-in. Beides kann in Ordnung sein. Schließlich zeichnet sich die queere Community dadurch aus, dass wir die Unterschiede zwischen Menschen wertschätzen.