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nicht-binäre Nachrichten

Zur Verfolgung nicht-gendernormativer Identitäten während der NS-Zeit

Lange gab es eine große Unsicherheit bezüglich der Einordnung und Bezeichnung nicht endocisgeschlechtlicher Identitäten, also nicht “eindeutig” biologisch männlich/weiblich und einer nicht mit dem biologischen Geschlecht übereinstimmenden psychologischen Geschlechtsidentität. Heute sind sowohl die wissenschaftliche Sprache im Bereich Geschlecht präziser geworden, als auch die in der Allgemeinbevölkerung üblichen Begriffe. Selbst wenn es manchem heutzutage so vorkommen mag, als ob jede Woche neue Geschlechtsbezeichnungen aufkommen oder man gar in Informationen zu ertrinken glaubt, ist allen ungefähr klar was unter den Schirmbegriffen (binär/nicht-binär) trans und inter zusammengefasst wird. Natürlich ist klar, dass es in einer derart heterogenen Gesellschaft trotzdem unterschiedliche Wissensstände gibt.

Bereits seit es Sprache gibt, vor allem aber seit 1919 durch die Gründung des Instituts für Sexualwissenschaft von Magnus Hirschfeld, gibt es Bemühungen, möglichst diskriminierungsarme Kategorisierungen für geschlechtliche Vielfalt zu etablieren. Vor mehr als 100 Jahren also, schien das absolute Zentrum der geschlechtsnonkonformen Community der deutschsprachige Raum, genauer Berlin, zu sein. Selbst die bekannte dänische Malerin Lili Elbe suchte im Februar 1930 Hilfe bezüglich ihrer Geschlechtsdysphorie beim renommierten Mediziner Hirschfeld, nachdem sie sich einige Monate zuvor ein Ultimatum gestellt hatte, ihrem Leben ein Ende zu bereiten, sollte sie nicht innerhalb von einem Jahr Unterstützung erhalten. Über ihre Zugreise mit alter Identität schreibt sie einmal: “Der Maler Einar Wegener ist tot. Er starb im Zug zwischen Paris und Berlin. Die übrigen Mitreisenden glaubten, er sei auf seinem Platz in der einen Fensterecke des Abteils eingeschlafen.”

Sie hatte das Gefühl, im Berlin der 1920er-Jahre sicher zu sein, in ihrer wirklichen Identität anerkannt zu werden, diese auch nach außen tragen zu können. Das lag vermutlich auch an den durch Dr. Hirschfeld ausgestellten, gemeinhin als Transvestitenscheine bezeichneten, ärztlichen Bescheinigungen, welche er auf Wunsch jenen Leuten ausstellte, die wegen Transvestitismus Repressalien durch Polizei und Staat befürchten mussten. Dabei fasste er sowohl trans Menschen als auch „Crossdresser“ zusammen. Das könnte heutzutage alle binären und nicht-binären trans Personen meinen, aber auch zum Beispiel Leute die sich zum Spaß, aus sexuellem Fetisch heraus, oder zu erwerbszwecken in den als zum gegenüberliegenden zugehörigen Kleidungsstücken öffentlich kleideten.

Unser Bild von Geschlecht ist stark durch feministische Diskurse der letzten 100 Jahre geprägt, die eine Benennung und in gewisser Weise auch Einordnung von Nicht-binarität als Geschlechtsidentität erst möglich machten. Natürlich gab es nicht-binäre, nicht-cisgeschlechtliche und nicht-endogeschlechtliche Identitäten schon immer, trotzdem ist es ein speziell christlich europäisches Phänomen, dass wir erst jetzt wieder explizit darüber sprechen. Wir können nur vermuten, mit welchen Ideen für die Zukunft Lili Elbe nach Berlin gereist ist. Für sich selbst, aber auch für eine Stadt, ein Land, das sich vermeintlich in eine gesellschaftsliberalere Richtung entwickelte. Das einen Platz für nicht-cisgeschlechtliche Menschen bietete. Natürlich war die queere Gemeinschaft noch weit von umfassender Gleichstellung entfernt, es gab dafür bunte Inseln, wie das alternative Unterhaltungsetablissement Eldorado.

Weiter ist uns allen schmerzlich bewusst, wodurch diese gesellschaftspolitische Liberalisierung ein mehr oder minder abruptes Ende fand: die Machtergreifung der Nationalsozialisten.

Nun begann ein neues Kapitel der deutsch(österreichischen) Gleichschaltung. Die Auferlegung des Volkserhaltungszwangs. Es galt, sich als Teil einer vermeintlich deutschen Rasse als Einzelperson entindividualisieren zu lassen. Die persönlichen Gefühle und Ziele galten nur dann als erwünscht, wenn sie deckungsgleich mit den perversen Ideologien des Naziregimes waren. Doch anders als jüdisches Leben, sollte homosexuelles nicht im eigentlichen Sinne völlig ausgerottet werden. Vielmehr wurde die homosexuelle Handlung an sich unter Strafe gestellt, bzw. das Strafmaß bereits bestehender sogenannter Homosexuellenparagraphen massiv verschärft. Während in Deutschland mit dem Paragraphen 175 allein im Pass als männlich ausgewiesene Personen strafrechtlich wegen Unzucht wider die Natur verfolgt werden konnten, galt in Österreich ein geschlechtlich gesehen neutral formulierter Paragraph 129 lb für als männlich und weiblich ausgewiesene Menschen die mit dem gleichen Geschlecht Sexualkontakte hatten. Nach dem Anschluss reichten für eine Verurteilung jedoch bereits beischlafähnliche Handlungen, und sogar eine wollüstige Absicht. Soll heißen, grundsätzlich wurde die homosexuelle Handlung verfolgt, damit aber natürlich auch oft auf Hörensagen hin vermeintliche Homosexuelle. Eine klar gegeneinander abzugrenzende Unterteilung in gleichgeschlechtliche Sexualkontake und queere Geschlechtsidentitäten gab es im Sinne wie heutzutage nicht wirklich. Das führte zwangsläufig zu einer Unsichtbarkeitmachung transgeschlechtlicher Identitäten, weshalb sich die Spurensuche danach äußerst kompliziert gestaltet.

Um unserer eigenen Vergangenheitsbewältigung willen, ist es wichtig, sich auf eine Spurensuche zu begeben, möglichen Hinweisen mit Vorsicht nachzugehen. Diese Hinweise sind nämlich nicht immer auf unsere heutigen Geschlechtsvorstellungen umzumünzen. Wie homosexuellen Opfern der NS-Verfolgung lange Zeit das Leid abgesprochen wurde, das sie durch eben jene erlebten, ist es für eine Aufarbeitung von transfeindlichen Hassverbrechen während der Nazi-Zeit unerlässlich sich laut für eine systematische Aufarbeitung stark zu machen. Doch welche Aufzeichnungen nimmt man her, wenn auch noch nach 1945 Transfeindlichkeit, Angst vor Queerness und Verleumdung vorherrschende Gesellschaftsphänomene waren? Viele Akten wurden verbrannt, andere Hinweise auf die queere Identität der eigenen Angehörigen womöglich aus Furcht vor sozialer Ächtung entsorgt. Das weltweit einzigartige Institut Hirschfelds, der mit wissenschaftlicher Forschung gesellschaftliche Akzeptanz erzielen wollte, fiel ebenso den antisemitischen Ausrottungsphantasien der Nazis zum Opfer. Es sind Fotos von dieser Zerstörung mit lachenden Nationalsozialisten überliefert, die sich freudig an der Ausradierung hunderter Akten beteiligten. Als trans Person, als queere Person, eine schmerzliche Erinnerung an die Verluste unserer eigenen Geschichte.

Auf der anderen Seite führten jedoch die Nazis selbst mich in gewisser Weise auf eine lange Zeit wenig beachtete Spur zu möglichen trans Geschwistern, genauer gesagt Opfer der Homosexuellenverfolgung. Denn über Strafprozesse bezüglich möglicher oder gesicherter homosexueller Handlungen führten sie selbst Akten. Vor allem bei im Pass als männlich eingetragenen Personen, wurde immer wieder Hinweisen nachgegangen, laut denen Männer einvernehmlichen Sex mit anderen Männern gehabt haben sollen. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung, so auch bei den Nazis, gab es den Aberglauben der Verführung zu homosexuellen Handlungen. Der Mensch war in dieser Vorstellung zwar als heterosexuell und cisgeschlechtlich geschaffen worden, aber durch böse fehlgeleitete Männer (und Frauen) zu Unzucht wider die cishet Natur getrieben.

Dank der Arbeit von QWien konnte ich in mehrere Strafakte der Homosexuellenverfolgung Einsicht nehmen, bei denen die Geschlechtsidentität mit dem heutigen Wissen als fraglich eingestuft werden kann. So wurden Fälle eingestuft, bei denen entweder von Zeugenbefragungen, eigene Protokolle oder in der Selbstbeschreibung Hinweise auf eine mögliche nicht-cis Identität zu schließen waren. Also zum Beispiel durch das Tragen der Kleidung des weiblichen Geschlechts, obwohl in Dokumenten männlich eingetragen war, oder das Führen eines weiblich konnotierten Namens statt des männlichen Geburtsnamens. Wir können aus heutiger Sicht nur sehr schwer Aussagen über die Identität Verstorbener aus dieser Zeit sprechen. Sie können nicht mehr selbst sagen, wie sie sich zuordnen würden.

Ein Hinweis auf mögliche trans Identität kann schwach sein, wie bei Franz M., der 1938 vom SA-Scharführer Friedrich S. angezeigt wurde, nachdem er ihn im Lokal Flottenbar angesprochen hatte. Beide sind daraufhin mit der Absicht auf Geschlechtsverkehr zu Franz M. in die Wohnung, auch wenn der SA-Mann Friedrich S. im Nachhinein zuerst behauptete Franz M. nur begleitet zu haben, um ihn wegen homosexueller Betätigung zu überführen. In den Ermittlungen der Gestapo kam dann ein psychiatrisches Gutachten aus der Heilanstalt Am Steinhof auf, dass Franz M. einen “hochsinnig geistigen Tiefstand” bescheinigte. Außerdem sei Franz M. laut Gutachten “geistig minderwertig mit schwachsinnigem Gesichtsausdruck […] von Haus aus schwachsinnig mit femininen Einschlag und homosexuellen Neigungen.” und sei deshalb nicht zurechnungsfähig, weshalb das Verfahren eingestellt und die Überführung in eine psychiatrische Klinik beantragt wurde. Die Hinweise können aber auch stärker sein, wie bei Leopold W., der/die sich selbst Lea nannte und auch allgemeinhin so bekannt war. Selbst in der Strafakte verwendeten die Vernehmenden durchweg “er/sie” und immer wieder Leopold/Lea. Anders als beim Fall Friedrich G., der sowohl als Rosa, als auch Johanna, als auch Susi bekannt war, änderte sich der Rufname Leas nie und würde wohl auch nicht sonderlich gut als Deckname dienen, da Lea und Leopold recht nah beieinander liegen. Nun kann man ihm/ihr wenig Vorstellungskraft unterstellen, oder es war vielleicht der Versuch, einen weiblich konnotierten Namen zu finden, der nah am Geburtsnamen ist, aber besser zum eigenen psychologischen Geschlecht passt. In mehreren Akten tauchen psychiatrische Gutachten als mögliche Entlastung auf, da es für die Nazis scheinbar nahe lag, gleichgeschlechtlich fühlende oder dem anderen Geschlecht zugehörige Kleidung tragende Menschen müssten wohl eine geistige Störung haben. Interessanterweise war auch für einen Angeklagten seine Intergeschlechtlichkeit ein Entlastungsgrund, da somit ja keine gleichgeschlechtliche Unzucht hätte stattfinden können.

Es bleibt zusammenfassend eine große Lücke in der Geschichte transgeschlechtlicher Menschen, viele Fragen, wenige Antworten. Doch ein Einblick in die Welt unserer gleichgeschlechtlich Liebenden, trans und inter Vorfahren zeichnet sich ab. Unter all dem Druck der Verfolgung, der Diskriminierung, der Pathologisierung, lebten, liebten und arbeiteten sie queer. Nicht immer sichtbar, nicht immer aufrecht, aber sie pflasterten sich ihre Wege, wo sie es konnten. Für sich und für uns. Lasst uns beginnen, nicht über unsere Geschichte zu teren, sondern alte, längst vergessen geglaubte Schichten freizulegen.

Von Mo Blau

HOSI Wien transgender Referat, früher Coming-Out-Team
(Foto: © Marie Dvorzak)