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Community & Politik Kommentar

Gänse für Martini

Wenn man auf einer Demo eine Fahne sieht, die eine Mischung aus der palästinensischen und der Regenbogenfahne ist, könnte einen das im ersten Moment freuen: Gibt es da eine wachsende LGBTIQ-Emanzipationsbewegung unter den Palästinenser:innen? Doch fand diese Demo nicht etwa in Ramallah statt, der Hauptstadt der Palästinensergebiete, sondern in New York. Und es ging bei der Demo nicht um die Rechte palästinensischer LGBTIQ-Menschen, sondern um die aktuelle Eskalation in Israel und dem Gaza-Streifen.

„Queers for Palestine“ ist das Motto, unter dem sich derzeit von New York über Berlin bis ins australische Melbourne Aktivist:innen pro-palästinensischen Demonstrationen anschließen. Natürlich ist das nichts Neues, schon in der Vergangenheit wurde auf verschiedensten LGBTIQ-Demonstrationen auch für Palästina demonstriert, z. B. beim Internationalist Queer Pride Berlin. Diese Solidarität ist bei weitem nicht nur auf LGBTIQ-Kontexte beschränkt: Als etwa der indigene amerikanische Künstler Nicholas Galanin den Instagram-Account des großen New Yorker „Public Art Fund“ am 9. Oktober übernehmen durfte, empfahl er, „Dekolonisiert diesen Ort“. Dazu schrieb er: „Unsere Aufstände sind queer, trans, schwarz, braun, indigen, migrantisch, palästinensisch und global.“

Aber selbst bei uns im gemütlichen Wien ist die Weltpolitik nicht zu übersehen. So wurde etwa Mitte Oktober aus einem Fenster der Türkis Rosa Lila Villa eine palästinensische Fahne gehängt, allerdings offenbar nicht offiziell von der Villa selbst angebracht, sondern von einem:einer der Bewohner:innen des Wohnvereins darin (als HOSI Wien wurden wir auf Social Media so oft danach gefragt, dass wir klarstellen mussten, dass wir nicht die Villa sind).

LGBTIQ-Menschen in Palästina werden ermordet, in Israel gehen sie zur Tel Aviv Pride.

Man reibt sich die Augen. Wissen all diese Leute wirklich nicht, an wessen Seite sie da stehen? Wissen sie nicht, dass die „gemäßigte“ Palästinensische Autonomiebehörde, die das Westjordanland regiert, eine:n für gleichgeschlechtliche Liebe bis zu zehn Jahre ins Gefängnis wirft? Dass im Gaza-Streifen die Todesstrafe auf Homosexualität steht? Dass die Hamas, die den Gaza-Streifen seit 2007 kontrolliert, allerdings diese kaum je selbst anwenden muss, da es in Palästina oft reicht, eine LGBTIQ-Person zu outen, damit sie ermordet wird?

Nicht, dass sie zögern würde, Gewalt gegen LGBTIQ-Menschen anzuwenden. Ein schwuler palästinensischer Flüchtling, der heute in der Türkei lebt, erzählte letztes Jahr Journalist:innen anonym, dass er mit 17 von der Hamas eingesperrt und gefoltert wurde: Sie ließen ihn tagelang weder schlafen noch essen, dafür prügelten sie ihn. Dann ließen sie ihn frei, nur um ihn im Lauf der nächsten fünf Jahre noch mehrfach einzusperren und zu foltern. Und selbst hochrangige Offiziere der Hamas sind nicht sicher: Mahmoud Ishtawi wurde 2016 zum Tode verurteilt und erschossen, nachdem man ihn des homosexuellen Geschlechtsverkehrs beschuldigt hatte.

Aber selbst wenn LGBTIQ-Palästinenser:innen es nach Israel schaffen, in dem alleine letztes Jahr deswegen 90 von ihnen als Asylwerber:innen lebten, können sie sich nicht völlig sicher fühlen. Der 25-jährige Ahmad Abu Marhia wurde 2022 entführt, ins Westjordanland verschleppt und dort in der Nähe der Stadt Hebron mit abgeschnittenem Kopf gefunden. Wohlgemerkt jenes Westjordanland, in dem nicht die Hamas herrscht, sondern „Palästinenserpräsident“ Mahmoud Abbas und seine Fatah. Wie sehr dieser es mit Menschenrechten und Demokratie für die Palästinenser:innen hält, kann man daran erkennen, dass er das letzte Mal 2005 gewählt wurde und politische Gegner eingesperrt und gefoltert werden oder verschwinden. Wieso gibt es eigentlich keine weltweiten Demos für die Freiheit der Palästinenser:innen von solchen Herrschern?

Währenddessen hat Israel umfassende Antidiskriminierungsrechte, erkennt gleichgeschlechtliche Ehen an (wenn auch nur im Ausland geschlossene, weil man in Israel keine Zivilehe schließen kann, sondern nur eine bei den Religionsgemeinschaften), und hat mit der Tel Aviv Pride die größte Pride Asiens. Und dann schwenken linke LGBTIQ-Aktivist:innen palästinensische Fahnen? „Queers for Palestine“, ernsthaft? Was kommt als nächstes, Gänse für Martini?

Analytische Flachheit in wesentlichen Teilen der Linken

Man muss einerseits von Uninformiertheit (oder präziser: äußerst selektiver Informiertheit) ausgehen. Andererseits handelt es sich dabei um analytische Flachheit. Es ist die Folge eines inner-linken Diskurses, der zunehmend in Schwarz-Weiß-Schemata denkt: Wer schwächer ist, muss das Opfer sein und Opfern muss man glauben, also haben diese automatisch Recht, und wer stärker ist, muss also Täter:in sein. So versickert neben dem völlig berechtigten Anliegen, dass die Palästinenser:innen einen eigenen Staat haben sollten, dann auch die Frage, woran das denn bisher gescheitert ist – und mit ihr die Überlegung, dass das in einem über 100 Jahre alten Konflikt etwas komplizierter und vielschichtiger sein könnte.

Dazu kommt in den USA, dass dort oft der inner-amerikanische Rassismus-Diskurs eins zu eins übertragen wird. So werden dann Israelis zu Weißen (wobei mehr Israelis aus dem Mittleren Osten stammen als aus Europa) und Palästinenser:innen zu people of color. Aber während so eine unzulässige Vereinfachung bei einem ganzen Ozean an Distanz vielleicht noch verzeihlich ist, ist es schon ein Zeichen bemerkenswerter intellektueller Überforderung, wenn europäische Linke das so übernehmen und sich Seite an Seite mit den Mördern von LGBTIQ-Menschen gegen die einzige rechtsstaatliche (wenngleich sicher nicht fehlerfreie) Demokratie in der gesamten Region stellen.

All das sind bei weitem nicht nur politische Obskuranten. Vom Ex-Chef der britischen Labour Party Jeremy Corbyn über den französischen linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon bis hin zum ehemaligen griechischen Finanzminister Yannis Varoufakis, die alle verweigert haben, den Terror der Hamas zu verurteilen: Sie stehen für signifikante Teile einer politischen Strömung, die von sich gleichzeitig behauptet, an der Seite von LGBTIQ-Menschen zu stehen.

Man sieht: Eine derart grotesk falsche Analyse führt zu absurden Ergebnissen. Das beschädigt letztlich die politische Handlungsfähigkeit der LGBTIQ-Community. Es bringt uns dazu, das Krokodil zu füttern, das, gleich nach Jüdinnen:Juden, uns selbst die Kehle durchbeißen will. Und das ist keine Übertreibung – wer Schwierigkeiten mit der Beschreibung von Gewalt hat, sollte den nächsten Absatz überspringen.

„Niemals wieder“ ist heute.

Denn was die Hamas am 7. Oktober verbrochen hat, war nicht einfach „nur“ die Ermordung von über 1.200 Menschen und Entführung von über 240 weiteren, von jüdischen Israelis ebenso wie arabischen, vom Baby bis zur Holocaust-Überlebenden, von Zivilist:innen und Tourist:innen. Es war nicht einmal nur das zahlenmäßig schlimmste Pogrom seit dem Holocaust. Es war auch von einer Bestialität, die man das letzte Mal vom Islamischen Staat mitbekommen hat. Kinder wurden vor ihren Eltern zu Tode gefoltert, Babys verbrannt, Frauen gruppenweise vergewaltigt, Schwangeren der Bauch aufgeschnitten und die Besucher:innen eines Musik-Festivals gejagt wie Tiere (Quellen: Associated Press, Reuters, CNN, Washington Post, US-Außenminister Antony Blinken). Alles stolz gefilmt von den Body-Cams der Hamas, deren Aufnahmen u. a. Diplomat:innen und unabhängigen Journalist:innen zugänglich gemacht wurden.

Wer all das „kontextualisieren“ wollte, noch bevor die Leichen kalt waren, steht letztlich auf der Seite des modernen Klerikalfaschismus‘. Ob aus geistiger oder ethischer Überforderung oder aus schlecht getarntem Antisemitismus ist für das Ergebnis egal. Hier ist eine unverhandelbare rote Linie erreicht und ich reiße gerne jede einzelne Brücke ein, die jemals darüber geführt haben mag. Da hört sich jeder gemeinsame Aktivismus, jede politische Zusammenarbeit auf. Die Hamas hat gezeigt, dass sie zum Schlimmsten gehört, das die menschliche Spezies zu ihrer Schande je hervorgebracht hat. Es sind lupenreine Klerikalfaschisten. Und seit dem Zweiten Weltkrieg weiß man, dass man mit Faschisten nicht verhandeln kann. Man kann sie nur besiegen, so entsetzlich der Preis dafür auch sein mag. Alle jene, denen LGBTIQ-Rechte, Antifaschismus oder nur allerbanalste Menschlichkeit tatsächlich etwas bedeuten, müssen hier zusammenstehen. „Niemals wieder“ ist heute.

Von Moritz Yvon

HOSI Wien Vereinssekretär, früherer Obmann HOSI-Wien
Foto: Matt Observe