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Wir sind viel mehr als unsere Arbeit

Wir mĂĽssen aufhören, uns ĂĽber unseren Job zu definieren. 

Wenn wir neue Personen kennenlernen, wird oft schnell die Frage gestellt: „Und was machst Du so?“ Von der Antwort hängt es ab, wie sich das weitere Gespräch entwickeln wird. Hat eine Person einen Job und verdient viel Geld, erhält sie meistens viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Menschen, die sich mit Gelegenheitsjobs herumschlagen oder arbeitslos sind, haben es dagegen schwerer. Doch warum ist das so? Warum legen wir so viel Wert auf die Arbeit? SchlieĂźlich sollte die Identität eines Menschen nicht an seinem Beruf festgemacht werden. Ich halte es fĂĽr schlimm, wenn Menschen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit in bestimmte Schubladen gesteckt werden. Egal, ob wir Verkäufer*innen, Reinigungskräfte oder Ă„rzt*innen sind – hier geht es um Tätigkeiten, mit denen wir Geld verdienen, aber nicht um CharakterzĂĽge. Auch sagt der Beruf nichts ĂĽber unsere Werthaltungen, WĂĽnsche, Träume und Ăśberzeugungen aus. 

Arbeitslosigkeit darf kein Stigma sein 

In unserer Arbeits- und Leistungsgesellschaft gibt es zahlreiche Ausgrenzungsmechanismen. Wenn Personen nicht oder wenig arbeiten, werden sie schnell abgestempelt. Doch Arbeitslosigkeit darf kein Stigma sein. Arbeitslose Menschen dĂĽrfen auf keinen Fall das GefĂĽhl bekommen, dass sie faul oder wertlos sind. Arbeitslose Menschen sollen sich auch nicht rechtfertigen mĂĽssen. Sie sind nicht schuld an ihrem Schicksal. SchlieĂźlich kann Arbeitslosigkeit alle treffen. Es ist auch in Ordnung, wenn Personen ein Studium, eine Lehre oder die Schule abbrechen. Manchmal brauchen Menschen im Zuge einer Neuorientierung mehr Zeit. 

Vielleicht erzählen wir beim nächsten Mal auf die Frage „Was machst du so?“ nicht von der Arbeit, sondern mehr ĂĽber uns wie beispielsweise: „ich mache Yoga“ – „ich engagiere mich ehrenamtlich“ – „ich bin politisch aktiv“ – „ich lese Krimis“ – „ich mag Musik“ – „ich koche gerne“ – „ich reise“.  Doch wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der fĂĽr viele Menschen die Arbeit neben der Liebe und Beziehungen oft der wichtigste Lebensinhalt ist. Nicht wenige Menschen möchten sich im Job verwirklichen und beruflich ihre ErfĂĽllung finden. Aussagen wie „ich bin Lehrer*in“ unterstreichen die Identifikation mit dem Beruf. Im Gegensatz dazu zeigen Sätze wie „ich arbeite als Lehrer*in“, dass der Job nicht gleich identitätsstiftend sein muss. NatĂĽrlich ist es nicht schlecht, wenn Personen einer erfĂĽllenden Tätigkeit nachgehen. Problematisch wird es jedoch, wenn ein GroĂźteil der Lebensenergie in die Arbeit flieĂźt. Das kann zu einem Burn-out fĂĽhren. Setzen Menschen alles auf die Arbeit und die Karriere, verlieren sie im Falle einer KĂĽndigung schnell das SelbstwertgefĂĽhl und fallen in ein schwarzes Loch. 

Konkurrenzdruck und Erfolgsdruck 

Unsere Leistungsgesellschaft hat viele Schattenseiten, wie etwa Stress, Konkurrenzdenken, Erfolgsdruck und die Angst vor dem Scheitern. Gleichzeitig wird in unserer neoliberalen Gesellschaft suggeriert, dass alle Menschen den sozialen Aufstieg schaffen, wenn sie sich nur genĂĽgend anstrengen. Doch die Realität sieht anders aus. AuĂźerdem haben nicht alle Personen die Möglichkeit, einen erfĂĽllenden Job zu haben. 

Gerade fĂĽr uns queere Personen kann eine intersektionale Sichtweise hilfreich sein, denn wir können von mehreren Diskriminierungsformen betroffen sein. Eine groĂźe Ungerechtigkeit ist die unbezahlte Care-Arbeit, die fast ausschlieĂźlich von Frauen geleistet wird. Auch sind Frauen und trans Personen oft in Niedriglohnbranchen beschäftigt. Mehr Solidarität ist auch im Umgang mit geflĂĽchteten Menschen notwendig. In politischen Debatten wird zwischen guten und schlechten Asylwerber*innen unterschieden – zu den Guten gehören jene, die sich schnell integriert haben, womit in erster Linie die Arbeit gemeint ist. Nicht wenige bleiben aber in schlecht bezahlten Jobs hängen. 

Arbeit als Betäubungsmittel 

Ich möchte in diesem Artikel zum Thema Arbeit noch einen anderen Aspekt einbringen, der mir wichtig erscheint. Ich unterstĂĽtze und begleite als Psychotherapeut Frauen, Männer, trans*, inter* und nicht-binären Personen. Beim Thema Arbeit fällt mir auf, dass insbesondere viele cis-Männer die Arbeit als Betäubungsmittel verwenden. Bei Frauen, trans, inter* und nicht-binären Personen kommt das selten vor. Dies hängt damit zusammen, dass wir leider immer noch in stark patriarchalen und binären Geschlechterstrukturen leben, wo sich cis-Männer viel ĂĽber die Erwerbsarbeit definieren. 

Nicht wenige cis-Männer verwenden die Arbeit als Betäubungsmittel, um nicht ins FĂĽhlen zu kommen. Die bekannte Feministin bell hooks schreibt ĂĽber das Thema Arbeit im Buch „Männer, Männlichkeit und Liebe“: „Viele Männer nutzen die Arbeit als einen Ort, an dem sie vor sich selbst, vor dem emotionalen Bewusstsein fliehen können, an dem sie sich selbst verlieren und aus einem Raum der emotionalen Taubheit heraus agieren können.“ Arbeitslosigkeit fĂĽhle sich fĂĽr Männer emotional so bedrohlich an, „weil sie bedeutet, dass es Zeit zu fĂĽllen gäbe, und die meisten Männer in der patriarchalen Kultur wollen keine Zeit fĂĽr sich haben“. Die Feministin bell hooks zitiert in ihrem Buch den US-Autor Victor Seidler, der schreibt: „Es gibt immer Dinge, die ich tun soll. Allein der Gedanke, mehr Zeit mit mir selbst zu verbringen, löst ein GefĂĽhl der Panik und Angst aus.“ An einer anderen Stelle schreibt Seidler ĂĽber Männer: „Wir geben uns nie wirklich die Chance, uns selbst besser kennenzulernen oder mehr Kontakt zu uns selbst zu entwickeln.“ 

Sich emotional öffnen 

Schon alleine das Sprechen ĂĽber GefĂĽhle fällt manchen Männern schwer. Ihnen wurde oft im Kindheitsalter beigebracht, dass „richtige“ Männer nicht weinen dĂĽrfen, was mit der binären und patriarchalen Geschlechterordnung zusammenhängt. Dazu passt die Redewendung „ein Mann kennt keinen Schmerz“. Auch im Jugendalter werden Männer als „Weicheier“ oder als schwach abgestempelt, wenn sie sich verletzlich zeigen. Daher unterdrĂĽcken viele Männer ihre GefĂĽhle. Sie versuchen, alles mit dem Verstand unter Kontrolle zu halten. Daher ist es notwendig, dass auch Männer schon im Kindheits- und Jugendalter lernen, sich emotional zu öffnen und nicht der binären und patriarchalen Geschlechterordnung zu folgen. Neben der Arbeit gibt es noch vielfältige Betäubungsmittel, um nicht fĂĽhlen zu mĂĽssen. In Ă–sterreich haben beispielsweise Männer nahezu doppelt so häufig einen problematischen Alkoholkonsum wie Frauen. Auch greifen Männer häufiger zu Drogen als Frauen. Dabei wäre die Beschäftigung mit den eigenen GefĂĽhlen so wichtig, weil sie Hinweise auf die BedĂĽrfnisse, Nöte, WĂĽnsche und Träume geben. Wer keinen Kontakt zu den eigenen GefĂĽhlen hat, ist wiederum anfällig fĂĽr Manipulationsversuche von auĂźen: Vor allem die Werbung und soziale Medien gaukeln uns vor, was wir angeblich brauchen. 

In der psychotherapeutischen Arbeit geht es genau darum: Zugänge zu sich selbst und zu den eigenen Gefühlen zu bekommen. Doch das fällt eben cis-Männern, die in der patriarchalen und binären Geschlechterordnung verankert sind, deutlich schwerer als Frauen. Von Männern höre ich immer wieder, dass sie nicht die Kontrolle abgeben möchten. Doch es ist nicht das Ziel, nur noch auf die Gefühle zu hören und den Verstand komplett auszuschalten, sondern es geht darum, die Gefühle und den Verstand in Einklang zu bringen. Wer beispielsweise Angst hat, braucht auch den Verstand, um eine potenzielle Gefahr möglichst richtig einschätzen zu können. Oft schalten Menschen ihre Gefühle ab, wenn sie in der Vergangenheit ein Trauma erlebt haben. Doch letztendlich kostet es zu viel Kraft, ständig die eigenen Gefühle zu unterdrücken. Es ist befreiend, sich mit den eigenen Gefühlen zu beschäftigen. Ich wünsche mir eine Welt, in der die binäre und patriarchale Geschlechterordnung abgeschafft ist. Dafür ist es notwendig, dass vor allem cis-Männer neue Zugänge zum Job und zur Karriere finden und sich außerdem mehr mit sich selbst und den eigenen Gefühlen auseinandersetzen.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.