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Kultur

Viennale 2023

So nah und doch so fern

Im Zentrum der diesjährigen VIENNALE stehen für mich die Dokumentarbeiträge über James Baldwin (1924-1987), „Visionär“ und „Reformer“, wie ihn der renommierte Literaturkritiker Sterling Brown in „I heard it through the grapevine“ (USA 1982) von Dick Fontaine betitelt. Als schwarzer Schriftsteller, der sich vor allem in seinen Romanen – zum Beispiel „Giovanni’s Room“, 1956 und „Another Country“, 1962 – auch mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte, hatte Baldwin es schwer, als Künstler in seinem Heimatland USA anerkannt zu werden. Aber auch als Mensch musste er immer wieder um Anerkennung ringen, fand sich mit den diversen Maßnahmen der „Rassentrennung“ – ob nun verordnet oder kultiviert –  und Vorfällen alltäglicher Diskriminierung nicht ab, sondern beklagte sich bei Landsleuten, Verantwortlichen und Regierenden über die menschenfeindliche Behandlung, die ihm, seinen Kolleg*innen und Freund*innen widerfuhr. Verblüffend – weil in seiner frühen Jugend nicht so wahrgenommen – rassistisch fand er Zeit seines intellektuellen Erwachsenenlebens auch die Seifenopern Hollywoods, die mit ihren romantischen Verklärungen und Klischeebildern zur Aufrechterhaltung weißer Vorherrschaft beitrügen; siehe dazu zum Beispiel sein Essay von 1976, „The devil finds work“: „Since the camera sees what you point it at: the camera sees what you want it to see. The language of the camera is the language of our dreams.“ Aber natürlich müsse das nicht so sein, ist Baldwin überzeugt, es sei nur so, dass die, die Interesse an einem ehrlichen und ernsthaften Blick auf die tatsächliche Lage der Nation(en), Kulturen und Menschen hätten, nur selten zu Wort und Bild kämen. Regisseuren, denen Baldwin trotz aller Kontroversen mehr oder weniger vertraute, so dass er sich von ihnen filmen ließ, sind – neben dem oben bereits erwähnten Dick Fontaine – Sedat Pakay mit „James Baldwin: From another place“ (Türkei 1973), Terence Dixon mit „Meeting the man: James Baldwin in Paris“ (Frankreich/UK 1970) und Horace Ové mit „Baldwin’s N*****“ (UK 1968). In den jeweiligen Dokumentaraufnahmen wird Baldwin auf Reisen gezeigt, wie er versucht, „auf Distanz zu den USA“ zu gehen – seiner Auffassung nach „das zentrale Unrechtssystem seiner Epoche“ (aus dem VIENNALE V’23-Katalog). In Istanbul, Paris und London ist die Kamera dabei, als der Autor und Aktivist Bücherflohmärkte erkundet, sich in Hotelzimmern einrichtet und als Vortragsredner geladen ist. Baldwin spricht bei diesen Gelegenheiten über die USA als Herkunfts- und Heimatland, Liebe und Sexualität, Kreativität und Schreiben, Freiheit und politischen Aktivismus.

Wie Reisen die Sichtweise auf die Welt und damit das Leben verändern kann, darum geht es auch im zweiten Beitrag der VIENNALE-Sparte „Historiografie“ mit zwei Filmen von David Schickele (1937-1999). Zwar eigentlich Musiker, wurde Schickele Anfang der 1960er vom US-amerikanischen Peace Corps als Englischlehrer nach Nigeria geschickt. Seine Erlebnisse dort verarbeitete er später in dem Dokumentarfilm „Give me a riddle“ (USA/Nigeria 1966). Er bezeichnete seine Erfahrungen in dem westafrikanischen Land als „lebensverändernd“: „physically, emotionally, and intellectually, Nigeria was one of the great adventures of my life“. Ein enger Freund in Nigeria war von Anfang an Paul Okpokam, der sowohl in dem ersten Film, als auch in dem zweiten eine Rolle spielt. „Bushman“ (USA 1971) ist zwar ein Spielfilm, mit Paul Okpokam als Gabriel, der 1968 nach San Francisco kommt, um „der amerikanischen Demokratie eine Chance“ zu geben, verarbeitet jedoch auch die Erfahrungen von Okpokam selbst, der in den späten 1960ern in die USA immigriert und Schickele überhaupt dazu inspiriert, diesen Film über einen Afrikaner in Amerika zu drehen, nachdem Schickeles erster Film von einem Amerikaner in Afrika handelte. Während „Give me a riddle“ von der Entkolonialisierungseuphorie der Jahre direkt nach der Unabhängigkeit ab 1960 berichtet, aber auch von westlichen Vorurteilen gegenüber afrikanischer Emanzipation und Kultur erzählt, geht der Spielfilm „Bushman“ die Themen Rassismus, Unterdrückung und Diskriminierung kritischer an. Gabriel kommt in den späten 1960ern in den USA an, als das Land von politischen Morden, rassistischen Gewalttaten und bürgerrechtlichen Aufständen bestimmt ist. Zudem herrscht in seinem Herkunftsland Nigeria – nach Reform- und Aufbruchsstimmung der unmittelbaren postkolonialen Ära – seit 1967 Bürgerkrieg, und die bürokratischen USA-Einwanderungshürden drohen sich umso mehr zu einer Katastrophe für Gabriel auszuweiten. Entsprechend geht der Film weit über die ursprünglich geplante Thematik von kulturellen Missverständnissen und Gegensätzen hinaus und bringt scheinbare Gewissheiten über Kulturen, Staaten und Menschlichkeit politischer Machthaber ins Wanken.

Natürlich werdet ihr nun fragen, wo bleiben die queeren Filme. Meine Antwort: Man kann Baldwin mit seinen explizit homosexuellen Romansujets getrost als queer bezeichnen. Er hat sich selbst als Verbündeter geoutet: „Everybody’s journey is individual. If you fall in love with a boy, you fall in love with a boy. The fact that many Americans consider it a disease says more about them than it does about homosexuality.“

Und auch Schickele ist der queeren Thematik nicht fern mit seinem Einsatz für sozial und kulturell Benachteiligte und dem Bestreben, „zu einer Verbesserung der Welt beitragen“ zu wollen.

Mademoiselle Kenopsia
Mademoiselle Kenopsia

Und da sind andere, die der diesjährigen VIENNALE ebenfalls ihren individuell eigensinnigen Stempel aufgedrückt haben. Da wäre zum Beispiel Denis Côté aus Kanada, der 2013 auf der Berlinale den Alfred-Bauer-Preis für die lesbische Liebeshassbeziehung von „Vic and Flo saw a bear“ erhielt. Bei der diesjährigen VIENNALE war er mit „Mademoiselle Kenopsia“ dabei. Der Beitrag erinnerte viele Kritiker*innen an Isolations- und Einsamkeitsszenarien der Corona-Pandemie. Tatsächlich spielt das Ganze in einem riesigen leerstehenden Gebäude, mit einer Frau, die nach eigener Aussage Ruhe, Stille und viel Platz sucht, dann aber doch von der Eintönigkeit der Situation überfordert ist. Meistens sieht man nur sie und abblätternde Wand- und Deckenbeschichtungen, sich aufrollende Fußbodenverkleidungen, verhaltenen Lichtschein durch die Gardinen, als wenn sich die blasse Person vor Sonnenlicht schützen müsse. Scheinbar ist sie nicht in der Lage, das Gebäude zu verlassen, obwohl sie stets gut gekleidet auf unerwarteten Besuch vorbereitet scheint, der aber nur dreimal kommt. Einmal ist es eine Frau, die Schutz und Bestätigung sucht, die Gestik der Bewohnerin bewundert und nachahmt, weil sie ihrer eigenen nicht traut, ein andermal ein Handwerker, der eine Kamera anbringt und dem die Bewohnerin so lange auf die Pelle rückt, bis er das Weite sucht. Die dritte Person ist die Vermieterin, der es in dem Gebäude fröstelt, die aber immerhin Kuchen mitgebracht hat. Im Übrigen scheint die Bewohnerin zur Schlaflosigkeit verdammt, man sieht sie nur schauen, umherwandern, höchstens Mal auf den Schreibtisch gelehnt wegnicken, aber in keinem Bett schlafend, nicht essend, es werden auch keine Einkäufe gebracht. Außer der Torte, die die Vermieterin mitbringt, ist wohl nichts gewesen. Wirklich langweilig ist der Film nicht, aber auch nicht spannend. Ich fragte mich, warum man so etwas überhaupt schaut und gab mir die Antwort, dass ich es nicht weiß. Und dann wieder finde ich die blasse Frau in weißer Bluse und schwarzer Hose, die mit ihren nass zurückgekämmten Haaren jederzeit so aussieht, als käme sie gerade aus der Dusche, faszinierend und be(un)ruhigend zugleich. Denn man sieht sie – außer, wenn sie telefoniert, merkwürdige Präsenzkonversationen führt und durch die Räume schreitet – ansonsten nichts tun. Sie existiert einfach nur, als wäre sie eine Figur aus den Tagebüchern einer mehr oder weniger bekannten Online-Therapeutin aus Deutschland, die genau dazu rät, nämlich einfach zu existieren und sich selbst genug zu sein, ohne nach Ablenkung zu suchen. So gesehen ein Film mit vollkommener Handlung.

Und hat man nach all der filmischen Melancholie immer noch nicht genug von der VIENNALE, bleibt nur, anderweitig Verpasstes nachzuholen, zum Beispiel die Ausstellung „Ostreport“ von Karol Radziszewski in der Galerie EXILE, Elisabethstr. 24, 1010 Wien, gleich ums Eck vom Museumsquartier, die während der VIENNALE eröffnet wurde und noch bis zum 9. Dezember läuft. Radziszewski ist Künstler und stellt seine neuesten Werke aus sowie historisches Material zum Thema Ost-West-Verbindungen innerhalb der LGBTIQ*-Community. Im Ausstellungsbegleittext werden übrigens die HOSI Wien und die von ihr in den 1980ern betreute Initiative EEIP Eastern European Information Pool sowie die Gründung der Österreichischen AIDS-Hilfe im Jahr 1985 herausgehoben. In dem Zusammenhang erwähnt wird auch Kurt Krickler als AIDS-Aktivist der ersten Stunde, der in den 1980ern per Motorrad Blutproben von Budapest nach Wien schmuggelte, um Mitgliedern der schwulen Community in Ungarn anonyme HIV-Tests zu ermöglichen. Als Radziszewski von den Zusammenhängen erfuhr, malte er extra für die Ausstellung ein großformatiges Bild mit dem Titel „Blood transport“, das Krickler auf seinem Motorrad zeigt. Radziszewski will damit nicht nur Kricklers Engagement würdigen, sondern auch die historisch gewachsenen Verbindungen von LGBTIQ*-Initiativen in Ost und West verdeutlichen: „…honoring not only the protagonist’s remarkable engagement but also referencing the broad network and intense exchange between gay activists in Vienna and neighboring countries in the East.“

Von Anette Stührmann

Freie Journalistin und Autorin