Filmpolitik im Umschwung
Berlinale 2022
Corona hatte auch in diesem Jahr die BERLINALE fest im Griff. Wettbewerbsteil und Rahmenprogramm wurden verkĂŒrzt, Besucherzahlen halbiert, Zutritt zu jeglichen Veranstaltungen, unter anderem auch Pressekonferenzen und Previews, hatten ausschlieĂlich nachweislich Geimpfte und Genesene. Ebenso fand die Teddyverleihung unter Ausschluss der Ăffentlichkeit als Lifestream statt. Insgesamt stand das diesjĂ€hrige Filmfest unter dem Motto âImpfen schĂŒtzt auch die Kultur!â. Wer da nicht mithalten konnte oder wollte, hatte eben Pech gehabt. So oder so hat man sich bemĂŒht, zumindest politische Rahmenveranstaltungen entweder hybrid, also sowohl prĂ€sent als auch gleichzeitig online, beziehungsweise von vornherein als Zoommeeting stattfinden zu lassen.
Auf diese Weise konnte die Initiative Pro Quote Film, die bereits seit 2014 auf gleichberechtigte Beteiligung von Frauen vor und hinter der Kamera hinarbeitet, mit Ăbergabe der GleichstellungsmissstĂ€ndeauflistung an die neue Staatsministerin und Beauftragte der Bundesregierung fĂŒr Kultur und Medien Claudia Roth, auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Diese versicherte, sich der Diskriminierung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen bewusst zu sein und versprach, sich insbesondere fĂŒr Chancengleichheit in Kunst und Kultur einzusetzen. Wie Pro Quote Film wiederholt dargestellt hat, sind Frauen nach wie vor in allen Kunst- und Kulturbereichen benachteiligt, obwohl die Studentinnenzahl an den meisten Hochschulen mittlerweile mindestens 50 Prozent ausmacht. Nach Studienabschluss verschwinden jedoch viele der gut ausgebildeten und kompetenten KĂŒnstlerinnen von der KulturbildflĂ€che und werden in Arbeitslosigkeit, Assistentinnenjobs, BĂŒroarbeiten und brotlose Freiberuflichkeit gedrĂ€ngt. Einige ganz Mutige unter den Feministinnen fordern deshalb inzwischen eine Frauenquote von 70 Prozent vor allem in den Regiepositionen von Theater und Film sowie bei den geförderten ProtagonistInnen in der bildenden Kunst: âWir verlieren jedes Jahr, indem Frauen benachteiligt werden. Wir verlieren als Gesellschaft.â Und: âObwohl wir die HĂ€lfte der Menschheit sind, begnĂŒgen wir uns in den meisten kulturrelevanten Branchen und Positionen mit nicht mal 25 Prozent des Lohnes und Ansehensâ, heiĂt es von Seiten der Organisatorinnen bei Pro Quote Film. Zudem gebe es mehr DiversitĂ€t bei den Zuschauer*innen als bei den Medienmacher*innen, was zu Monotonie und Stereotypenbildung fĂŒhre. So bestreite sich insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus alten gewachsenen Strukturen, was bedeute, dass MĂ€nner lieber mit MĂ€nnern arbeiteten, Sexismus, Diskriminierung und Rassismus an der Tagesordnung seien und Frauen es am mĂ€nnlich-heterosexuell-weiĂ-dominierten Set schwer hĂ€tten, sich durchzusetzen. Andererseits gehe es darum, sich die Devise âWhat she can see, she can beâ zu eigen zu machen und selbstbewusst darauf zu beharren, dass Frauen* gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen zustehe. Entsprechend verwies Claudia Roth darauf, dass es âallerhöchste Zeit fĂŒr feministische Filmpolitikâ sei: âFrauen haben gleiche Qualifikationen, Kompetenzen und KreativitĂ€t. Wir sind 51 Prozent; wir wollen auch entsprechende ReprĂ€sentanz und Teilhabe.â Die Vielfalt der Gesellschaft, die natĂŒrlich auch LGBTIQ* einbeziehe, mĂŒsse in der Kultur sichtbar sein: âVielfalt muss vorkommen, nicht nur als Klischee.â Explizit bat Roth die Pro Quote-Aktivistinnen: âBitte ĂŒben sie ruhig Druck aus!â Auch im Kulturbereich habe man einiges nachzuholen.
Ebenso engagiert wie Pro Quote Film zeigten sich die Veranstalterinnen des Internationalen Frauenfilmfestival Dortmund und Köln. Sie organisierten eine Diskussionsrunde zum Thema âImagine Afghanistan: Women filmmakers and their visionâ. Dort stellten drei Regisseurinnen ihre Werke und Intentionen vor. Shahrbanoo Sadat zeigt in âKabul Kinderheimâ das Leben in einem Waisenhaus zu Zeiten, als Afghanistan unter sowjetischer Besatzung war. Rokhsareh Ghaemmaghami erzĂ€hlt in âSonitaâ von einer jungen GeflĂŒchteten im Iran, die Rapperin werden will. Zamarin Wahdat geht in âBambirakâ ihrer Beziehung zu ihrem Vater und ihrer BikulturalitĂ€t nach: âFĂŒr die Deutschen bin ich immer Afghanin geblieben, in Afghanistan gelte ich als deutschâ. Alle drei Filmemacherinnen sind sich einig, dass man in der westlichen Welt immer dieselben Stereotype in Bezug auf Afghanistan bemĂŒhe. So wolle man keinen afghanischen Fortschritt auf der Leinwand sehen, nicht mal alltĂ€gliche Technik, wie einen Fahrstuhl oder die Autobahn. DarĂŒber hinaus sei bisher wenig möglich gewesen, weil es fĂŒr Filme mit alltĂ€glichen menschlichen Inhalten aus und ĂŒber Afghanistan kaum finanzielle Mittel gebe. âWir haben es schwer, unsere eigenen Geschichten zu erzĂ€hlen, wie wir sie wirklich erlebt haben, und uns damit Gehör zu verschaffenâ, sagt Rokhsareh Ghaemmaghami. âDabei ist der afghanische Alltag dramatisch genug, und die Menschen haben meist alltĂ€gliche TrĂ€ume, so wie andere Leute zum Beispiel in Deutschland auch. Man muss nichts dazu erfinden, um den Film dramatischer zu machenâ, beschreibt es Zamarin Wahdat. Shahrbanoo Sadat findet, dass die beste Rache an den politischen Machthabern sei, einfach weiter Filme zu machen, die RealitĂ€t und eigene Perspektiven darzustellen. Und Zamarin Wahdat fĂŒgt hinzu: âEs ist wichtig, Einwanderergeschichten zu erzĂ€hlen und den ProtagonistInnen dabei ihre Perspektiven zu lassen. Man sollte nicht stereotypisieren, weil das nur eine einseitige Betrachtung auf die Person, Kultur und Community ergibt.â
So politisch wie das Rahmenprogramm sind auch einige FilmbeitrĂ€ge der BERLINALE selbst. So erzĂ€hlt Magnus Gertten in âNelly & Nadineâ (Schweden, Belgien, Norwegen) von einem Frauenpaar, das sich Ende 1944 im Frauenkonzentrationslager RavensbrĂŒck lieben lernt und nach der Befreiung zusammenbleibt. Das gemeinsame Leben der beiden Frauen wurde jedoch in Familienkreisen geheimgehalten, bis Nellys Enkelin auf die Geschichte des Paares stieĂ und sich dieser nun öffentlich erinnert.
Der Film kommt gerade rechtzeitig und passend zu den lesbischen GedenkaktivitĂ€ten in RavensbrĂŒck, die zum 77. Jahrestag der Befreiung am 30. April stattfinden sollen. Da RavensbrĂŒck das zentrale Frauenkonzentrationslager im deutschen Reich war, in dem von 1939 bis 1945 insgesamt 120.000 Frauen aus ĂŒber 30 Nationen inhaftiert waren, von denen ein FĂŒnftel die Haft nicht ĂŒberlebten, gibt es seit lĂ€ngerer Zeit auch BemĂŒhungen, an die lesbischen Insassinnen unter den politisch, rassistisch, religiös Verfolgten und als asozial Diffamierten zu erinnern. Die Initiative âAutonome feministische Frauen und Lesben aus Deutschland und Ăsterreichâ stellte vor einigen Jahren bei der Stiftung Brandenburgische GedenkstĂ€tten einen Antrag auf Errichtung einer Gedenkkugel. Nachdem lange ĂŒber den Verfolgungsbegriff gestritten worden war, beinhaltete der Antrag eine kritische Analyse der historischen Fakten, die mit Genehmigung des Mahnmals bestĂ€tigt wurden. So habe es zwar fĂŒr lesbische Frauen keinen explizit festgelegten Straftatbestand gegeben, jedoch seien nicht wenige nach Denunziationen aus der Bevölkerung und mit dem Vorwurf âunsteten Lebenswandelsâ in Haft gekommen, andere seien sogar gezielt als Lesben ermordet worden, nachdem man sie ursprĂŒnglich aufgrund einer rassistischen Kategorisierung interniert hatte, heiĂt es von Seiten der GedenkstĂ€tte. Dass lesbische Frauen in der Erinnerungskultur bisher kaum vorkommen, erklĂ€ren Historiker*innen damit, dass die SexualitĂ€t von Frauen nach Ende des Krieges weiter tabuisiert wurde und daher bis heute nur wenige lesbische Zeitzeuginnen namentlich bekannt sind. Vor diesem Hintergrund erscheint die ErzĂ€hlung gleichgeschlechtlicher Liebesgeschichten, wie jene von Nelly und Nadine umso wichtiger.
Auch der Dokumentarfilm âAlisâ (Kolumbien, Chile, RumĂ€nien) von Clare Weiskopf und NicolĂĄs von Hemelryck, der auf der BERLINALE in âGeneration 14plusâ lief, erzĂ€hlt von dem Freiheitwunsch einer Frau. Die fiktive Alis, die sich die Jugendlichen in einem kolumbianischen Heim vorstellen, soll in einer Welt âohne KĂ€mpfeâ und âohne Diskriminierungâ leben. Wie die fiktive Frau haben die Protagonistinnen ein Leben auf der StraĂe erfahren, in der sie rechtlos und fremdbestimmt waren.
Die 16-jĂ€hrige Protagonistin in dem Kurzfilm âAos dezasseisâ (Portugal) von Carlos Lobo ist zwar nicht obdachlos und auch in keinem Heim untergebracht, aber auch sie wĂŒnscht sich in eine andere, bessere Welt mit mehr Freiheiten, vor allem mit mehr Selbstbewusstsein, um ihre eigene SexualitĂ€t ausleben zu dĂŒrfen.
Um bei der Ausbeutung von Frauen und dem Male Gaze zu bleiben, lohnt sich der Hinweis auf den Dokumentarbeitrag âBrainwashed: Sex-Camera-Powerâ (USA), in dem die Regisseurin Nina Menkes die patriarchalisch geprĂ€gte Filmsprache in Filmszenen aus ĂŒber 100 Jahren unter die Lupe nimmt. Menkes bezieht sich vor allem auf ihren eigenen Vortrag âSex and Power: The Visual Language of Oppressionâ und deckt dabei patriarchalische ErzĂ€hlstrukturen auf, die sich hinter glamourösen Bildeinstellungen verstecken.
In âCalcinculoâ (Italien, Schweiz) bricht Regisseurin Chiara Bellosi solche Erwartungen vollstĂ€ndig auf, indem sie eine Hauptcharakterin zeigt, die sich mit ihrer Bewunderung fĂŒr eine selbstbestimmte Schaustellerin den Gendernormen ihrer Umwelt mutig widersetzt.
âIf from Every Tongue It Dripsâ (Kanada, UK, Sri Lanka) von Sharlene Bamboat geht die Themen Feminismus, Queerness und Diskriminierung dagegen formaler an und wird als âhybrider Dokumentarfilmâ bezeichnet, in dem persönliche Verbindungen und politische Bewegungen zueinander in Beziehung gesetzt werden. In Interaktion gezeigt werden eine Poetin und ihre Partnerin, die Kamerafrau des Filmes, der die Auseinandersetzungen des Paares abbildet. Gleichzeitig geht es um Kolonialismus, Nationalismus und wie sich die beiden Komponenten auf die Arbeit der Partnerinnen und das filmische Agieren miteinander auswirken.
Mit der ErwĂ€hnung von âLadies Onlyâ (Deutschland, Indien) von Rebana Liz John und ihrer Reise in den Frauenabteilen der NahverkehrszĂŒge in Mumbai, in denen die Passagierinnen von ihren persönlichen Betrachtungen erzĂ€hlen, möchte ich diesen kleinen lesbisch-feministisch dominierten Ăberblick ĂŒber die BERLINALE schlieĂen. Mein Preisverleihungsbericht mit Besprechung der BĂ€ren- und Teddy-Awards erscheint redaktionsschlussbedingt erst in der kommenden Lambda im Sommer.