Vergangenheitsbewältigung in politisch turbulenten Zeiten
Das Summer Special der 71. Berlinale im Juni umfasste auch die Open-Air-Filmvorführungen der 15 für den 35. Teddy Award nominierten Filme. Einige davon beschrieb ich bereits in meinem BERLINALE-Beitrag der vorigen
Lambda-Ausgabe, zum Beispiel „Genderation“ von Monika Treut, „Glück“ von Henrika Kull und „North by current“ von Angelo Madsen Minax. Weitere zu besprechende Filme sind unter anderem „Das Mädchen und die Spinne“ von Ramon und Silvan Zürcher, „Moon, 66 Questions“ von Jacqueline Lentzou und „The Scary of Sixty-First“ von Dasha Nekrasova, die sich allesamt unter anderem mit der Aufarbeitung und Verarbeitung der Vergangenheit auseinandersetzen. So erzählt der schweizerische Beitrag „Das Mädchen und die Spinne“ von der Auflösung einer Wohngemeinschaft und den Verwicklungen rund um den Umzug und die HelferInnen, während die griechisch-französische Koproduktion „Moon, 66 Questions“ die Protagonistin in ihre alte Heimat zurückkehren lässt, um den erkrankten Vater zu pflegen und sich längst vergangenen Bildern und Prozessen zu stellen. In „The Scary of Sixty-First“ aus den USA geht es noch weitaus brisanter zu, wenn zwei BewohnerInnen eines New Yorker Apartments den gewalttätigen Exzessen Jeffrey Epsteins nachspüren und gemeinsam zu einem solidarischen Racheakt ausholen.
Auch die PreisträgerInnen der Teddy Awards beschäftigen sich mit Vergangenheit und Erinnerung und den Einflüssen, die diese auf Lebensführung und Entscheidungen der ProtagonistInnen haben. Andererseits geht es in diesen Beiträgen vor allem auch ums Überleben trotz aller Widrigkeiten und um den Kampf, den die ProtagonistInnen in ihrem jeweiligen Alltag führen. So stellt sich der Portraitierte in Eliane Rahebs Beitrag „Miguel’s War“ (Libanon/D/Spanien), der mit dem Teddy für den besten Langfilm geehrt wurde, seinen Sehnsüchten nach Liebe und Vergebung, reist nach Jahrzehnten im Exil zurück in seine frühere Heimat Libanon und konfrontiert sich mit den eigenen schmerzvollen Erinnerungen und Gefühlen. Er geht den traumatischen Erlebnissen, die er in seiner Familie erlitt, nach und sucht nach einem Ausweg aus dem Dilemma aus Verbitterung und Schuldgefühlen. Laut der Regisseurin wollte Miguel sich durch das Erzählen befreien, und so entstand der Film, dessen Hintergrund der komplizierte Bürgerkrieg im Libanon ist. Nach Ende des Krieges gab es keine Aussöhnung, keine Amnestie, keinen Plan, wie es weitergehen soll. Und die Situation ist immer noch schwierig im Libanon. Das alles verarbeitet Raheb in ihrem Film und zeigt den Protagonisten, wie er sich in der neuen alten Situation in seinem Land zurechtfindet und sich gleichzeitig mit seinen Albträumen zu versöhnen sucht. Familie, Religion und Faschismus können die Individualität einer Person zerstören, so die Regisseurin über Miguels Trauma: „Emotional gesehen lebt er weiterhin im Libanon, körperlich ist er in Spanien“.
Alexander, ein Transmann, und seine Frau Mari erleben diesen persönlichen und politischen Kampf hautnah in Yana Ugrekhelidzes mit dem Teddy Jury Award ausgezeichneten Film „Instructions for survival“ (D). Hier begleitet die Kamera das Alltagsleben des jungen Paares im heutigen Georgien. Es geht weniger um die Verarbeitung der Vergangenheit, als um das Überleben in einer archaisch-konservativ geprägten Gesellschaft, in der es gefährlich sein kann, die eigene Identität zu offenbaren, wenn diese von der Mainstreamgesellschaft als fremd und feindlich wahrgenommen wird. Der Protagonist erzählt, dass er abends nach der Arbeit zu Hause er selbst sein kann, aber draußen muss er sich permanent verstecken, um sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Die Regisseurin beschreibt die Situation in Georgien so, dass es in der Hauptstadt möglich ist auch als queere Person akzeptiert zu sein und ein glückliches Leben zu führen. Außerhalb der Großstadt habe man aber kaum eine Chance, ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen, wenn man sich nicht mit seiner Identität und Orientierung verstecken möchte. Andererseits führe diese Situation dazu, dass Transpersonen und Homosexuelle aus ländlichen Gebieten in die Großstadt fliehen und dort aus Mangel an familiärer Unterstützung in der Prostitution landen.
Den persönlichen Kampf, der einerseits für das eigene Überleben notwendig ist, jedoch in seiner Gefahr auch das eigene Leben kosten kann, behandelt auch der mit dem Teddy Award ausgezeichnete Kurzfilm „International dawn chorus day“ von John Greyson aus Kanada. Dieser international gefeierte Tag existiert tatsächlich; jedes Jahr im Mai lauschen die TeilnehmerInnen bewusst dem frühmorgendlichen Vogelgezwitscher. Greyson zeigt uns das Geschehen als eine Videokonferenz bei der die Vögel sich versammeln und einander Neuigkeiten zuzwitschern, während Menschen pandemiepolitisch bedingt in ihren Wohnungen eingesperrt sind. In der Story Greysons werden politische Themen, Anliegen und Informationen diskutiert und ausgetauscht. Dabei geht es in der verwirrten und verwirrenden Utopiewelt, in der sich die Vogelgesellschaft über die merkwürdige Menschenwelt mit ihren Grenzen, Krankheiten und Gewalttätigkeiten unterhält, auf einer anderen Ebene um kritische FilmemacherInnen, satirische MusikvideokünstlerInnen und queere AktivistInnen, die für ihren politischen Kampf mit Gefängnisstrafe, Flucht und Tod bezahlen.
Last but not least wurde die US-amerikanische Filmemacherin, Filmproduzentin, Autorin, Historikerin, Künstlerin, Filmkuratorin, Filmprogrammerin und vor allen Dingen Filmliebhaberin Jenni Olson „für ihre jahrzehntelange brückenbauende Arbeit, mit der sie queere Filmgeschichte sicht- und greifbar macht“, mit dem Special Teddy Award ausgezeichnet. Sie fing in den 1990ern selbst mit dem Filmen, genauer gesagt mit ihren Essayfilmen an, anhand derer sie die ZuschauerInnen eine Verbindung zu ihren eigenen Gefühlen herstellen lassen will. „The Joy of Life“ (2005): Voice-over-Doku anlässlich des Selbstmordes eines Freundes vor Hintergrundbildern historischer Gebäude, die dem Verfall anheim gegeben werden, und „The Royal Road“ (2015): US-amerikanische Geschichtsstunde und Begegnung mit angehimmelter Frau von der Regisseurin selbst gesprochen vor dem Hintergrund nostalgisch-idyllischer Landschaften und Bauwerke, beide in Spielfilmlänge, hatten jeweils auf dem Sundance Film Festival Premiere. Unter anderem war Olson auch Co-Direktorin des San Francisco International LGBTQ Film Festivals.