Benno Gammerl: Anders fühlen. Hanser Verlag, München 2021.
Historische Publikationen können oft langweilig sein, wenn nur Fakten und Ereignisse aufgezählt werden. Dieses Buch ist anders, denn es zeigt die Entwicklung der Gefühlswelten von queeren Menschen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts auf. Dazu wurden im Zuge von Oral-History-Interviews 32 Personen (15 Frauen und 17 Männer) befragt. Sich mit den Lebensgeschichten und der Entwicklung der Gefühle von LGBTIQ-Menschen zu beschäftigen, bringt viele interessante Erkenntnisse. So greift die simple These, dass sich queere Personen früher geschämt haben und heute stolz seien, viel zu kurz. Denn die Ängste sind nicht einfach verschwunden, sondern haben sich verändert. Queere Menschen fürchten sich heute anders und vor anderen Dingen als vor 60 Jahren. Die befragten Personen erzählen, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten Angst, Liebe, Scham, Freude, Trauer und Selbstbewusstsein empfunden haben und wie sie damit umgegangen sind. Manche haben verschiedene Gefühle verdrängt oder unterdrückt, andere haben sich mit diesen auseinandergesetzt. Einige Menschen waren selbstsicher, andere waren oft der Verzweiflung nahe. Der Umgang mit den eigenen Gefühlen hatte Auswirkungen auf das Coming-out, auf das Sex- und Liebesleben sowie Freundschaften. Galt es früher die Lust und das Begehren von der strikten Sexualmoral der Nachkriegszeit zu befreien, gibt es heute oft einen Druck, das Sexleben zu optimieren. Auch wenn sich der Fokus des Buches auf Deutschland richtet, ist die Lektüre zu empfehlen, weil viele in Österreich lebenden LGBTIQ*-Personen ähnlich gefühlt haben dürften.