In Teilen der LGBTIQ-Community sind psychische Erkrankungen ein Tabuthema. Doch je offener damit umgegangen wird, desto mehr kann betroffenen Menschen geholfen werden.
In meiner psychotherapeutischen Arbeit empfehle ich immer wieder bestimmte Bücher und Filme. Denn diese können Impulse und Denkanstöße geben, um eine Krisensituation zu bewältigen oder mit einer Erkrankung umzugehen. Ein Buch, das mich zuletzt sehr angesprochen hat, ist die Autobiografie des schwulen Autors Cordt Winkler mit dem Titel „Ich ist manchmal ein anderer – Mein Leben mit Schizophrenie“.
Winkler war Anfang 20, als er die Diagnose paranoide Schizophrenie bekam. Die Erkrankung stellte sein Leben auf den Kopf. Nicht wenigen Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, hat das Buch Mut gemacht. Denn Winkler pflegt einen offenen Umgang mit seinen „Tüdelüt“-Phasen. Und was ich besonders toll finde: Winkler zeigt, dass es möglich ist, mit Schizophrenie ein gutes Leben zu führen: Er studierte Medienwissenschaften, hat einen Partner und arbeitet in einer Trendforschungsagentur.
Dieser ehrliche Umgang tut gut. Denn in unserer Gesellschaft sind psychische Erkrankungen oft ein Tabuthema. Auch in der LGBTIQ-Community haben es Menschen mit psychischen Beschwerden nicht immer leicht. Dabei zeigen verschiedene Studien, dass solche Erkrankungen generell zugenommen haben. Dazu gehören Depressionen, Angsterkrankungen, Panikattacken, manische Episoden, Zwänge, Süchte, Essstörungen, nicht organische Schlafstörungen und Schizophrenie. Das Buch von Cordt Winkler kann hier helfen, Vorurteile abzubauen.
Allerdings fiel es auch ihm zunächst nicht so leicht, seiner Familie und den Freund*innen von der Erkrankung zu erzählen. In dem Buch spricht er von einem „zweiten Coming-out“. Diese Wortwahl kenne ich von LGBTIQ-Menschen in meiner psychotherapeutischen Arbeit. Auch sie erzählen, dass es sich wie ein zweites Coming-out angefühlt hat, als sie zum ersten Mal mit Nahestehenden über ihre psychische Erkrankung gesprochen haben. In einem Interview mit der Zeitschrift „Mannschaft“ sagte Winkler: Als er sich als schwul geoutet habe, sei er erst 18 Jahre alt gewesen. Damals habe er noch kein so großes Selbstvertrauen gehabt. Mittlerweile fühle er sich viel geerdeter. „Entsprechend lief mein zweites Coming-out.“ Es sei etwas Befreiendes gewesen, als er Menschen von der Erkrankung erzählt habe. Er habe viele positive Rückmeldungen bekommen. „Komisches Feedback gab es noch nie, höchstens mal hinter meinem Rücken, aber das ist mir egal“, so Winkler.
Neben dem offenen Umgang mit der Erkrankung hat mich das Buch noch aus folgenden Gründen angesprochen:
Empowerment
Leider wird in Teilen der Gesellschaft oft die Ansicht vertreten, dass psychische Erkrankungen ein Zeichen von Schwäche sind, was aber nicht stimmt. Viele betroffene Menschen fühlen sich stigmatisiert. Sie versuchen, die Erkrankung zu verdrängen oder sie zu bekämpfen. Doch das kann auf die Dauer nicht funktionieren. Cordt Winkler schreibt in dem Buch, die Lebensqualität steige in dem Moment, in dem Betroffene aufhören, die Krankheit zu bekämpfen. Viel besser sei es, einen guten Umgang mit den „Tüdelüt“-Phasen zu finden.
Als Psychotherapeut bin ich ein entschiedener Befürworter des „Empowerment“-Konzepts. Empowerment bedeutet Selbstermächtigung beziehungsweise Selbstbefähigung und entstammt ursprünglich der Emanzipationsbewegung von Frauen und der Befreiungsbewegung von „people of color“ in den USA. Empowerment bedeutet in der Psychotherapie unter anderem die Förderung und Stärkung der persönlichen Fähigkeiten und Ressourcen. Cordt Winkler bezeichnet in seinem Buch Empowerment als Kompetenz, sich trotz der psychischen Erkrankung „die Hoheit über das eigene Leben zu erhalten, Stigmata zu überwinden und zu einem positiven Selbstbild zu gelangen“.
Expert*innen in eigener Sache
Wichtiger Bestandteil des Empowerment-Konzepts ist, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu Expert*innen in eigener Sache werden. Ziel ist es, dass sie sich den Beschwerden nicht passiv ausgeliefert fühlen, sondern dass sie sich damit aktiv auseinandersetzen. Damit verbunden ist auch Psychoedukation. Hier geht es darum, dass die betroffenen Menschen, Freund*innen und Angehörigen mehr über die verschiedenen Aspekte der jeweiligen Erkrankung erfahren: Welche Möglichkeiten der Behandlung gibt es? Wie gehen andere Menschen damit um? Gibt es Bereiche, in denen es sinnvoll ist, das Leben zu ändern? Wie sieht der Verlauf der Erkrankung aus? Denn psychische Beschwerden haben viele individuelle Komponenten. Auch die Symptome können unterschiedlich sein und phasenweise auftreten. Bei Cordt Winkler beispielsweise haben sich die Episoden im September ereignet.
Wer sein Buch liest, erfährt viel Wissenswertes über Schizophrenie. Eine Schizophrenie bedeutet nicht gespaltene Persönlichkeit, wie oft umgangssprachlich vermutet wird, sondern die Erkrankung kann verschiedene Symptome umfassen wie etwa Halluzinationen, Wahn und Denkstörungen.
Keine Stigmatisierung
Ein großes Problem ist die mediale Berichterstattung im Zusammenhang mit Schizophrenie und die damit verbundene öffentliche Wahrnehmung. Taucht der Begriff in Zeitungen auf, geht es „überwiegend um beängstigende Straftaten vermeintlich schizophrener Täter oder um Skurrilitäten“, schreibt Winkler. In der medialen Berichterstattung entstehe somit der „Eindruck eines bedrohlichen und gefährlichen Leidens, das mit schweren Straftaten wie Tötungsdelikten“ verbunden sei. Doch das entspricht nicht der Realität. Das negative Bild in der Öffentlichkeit führt oft dazu, dass betroffene Menschen anderen nichts über die Erkrankung erzählen. Damit stigmatisieren sich die Personen selbst.
Die Selbststigmatisierung und nicht die eigentliche Erkrankung sind nach Expertenansicht schuld daran, dass sich betroffene Menschen immer mehr zurückziehen. Mit Selbststigmatisierung ist laut Winkler die „Verinnerlichung negativer Bewertungen durch die Umwelt gemeint“, wobei auch Freunde und Familie von (Selbst-)Stigmatisierung betroffen sein können. Umso wichtiger ist, dass der Teufelskreis durchbrochen wird.
Unterstützung annehmen
Für psychische Erkrankungen gibt es verschiedene Behandlungsformen wie Medikamente, stationäre Aufenthalte in einem Krankenhaus oder Psychotherapie. Ein wichtiger Punkt bei der Suche nach Psychotherapeut*innen ist das Vertrauensverhältnis. Eine Psychotherapie kann nur wirken, wenn sich die Menschen in der Therapie gut aufgehoben fühlen und sich öffnen können. Ob Psychotherapeut*innen zu bestimmten Menschen passen, ist individuell verschieden, auch Gender-Aspekte können bei der Suche eine Rolle spielen. Empfehlenswert ist es daher, mit Therapeut*innen zunächst ein erstes Gespräch zum Kennenlernen zu vereinbaren.
Cordt Winkler schreibt, er sei überrascht gewesen, dass es in seiner Therapie einen „pragmatischen Blick nach vorn gab und nicht Mutter oder Vater schuld zu sein schienen“. Winkler sollte in der Therapie zunächst „darauf achten, wie ich mit mir selbst umging“. Im Gespräch mit dem Therapeuten habe er gelernt, seine unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile zu akzeptieren und besser zu verstehen. „Viel Platz nahm mein innerer Kritiker ein, der sich wie ein fieser Oberlehrer aufführte“, schreibt Winkler.
Humor schafft Distanz
Winkler hatte manche Krankheitsphasen, die teilweise besonders heftig verlaufen sind. Einmal irrte er im Wahn tagelang alleine in Italien umher, warf seine Reisetasche mit Reisepass, Schlüssel, Handy und Kreditkarten weg. Seine Rettung waren Carabineri, die ihn in die Notaufnahme eines Krankenhauses brachten. Trotz solcher Erlebnisse hat es Winkler geschafft, auch einen humorvollen Blick auf die Erkrankung zu haben. In dem Buch schreibt er lieber von „Tüdelüt-Phasen“ anstatt von Schizophrenie. Seine Ärztin ist für ihn „Frau Doktor Tüdelüt“. Winkler kann auch über sich selbst lachen. Schließlich waren manche Tüdelüt-Phasen besonders skurril. Humor kann jedenfalls helfen, Abstand zu schwierigen Dingen zu bekommen und diese in einem anderen Licht zu sehen. λ