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Gesundheit Schwerpunkt

Mens sana in corpore sano

Ein Auftakt

Betrifft Millennials und alle danach Geborenen

Erst mit dem Erkenntnis des VfGH vom 3.12.2009 durften sich Kinder und Jugendliche in Österreich sicher fĂŒhlen, dass ihr anderes Geschlechtsempfinden nicht irgendwann zu einem staatlichen Eingriff in die körperliche IntegritĂ€t fĂŒhrt, sollten sie dieses Empfinden auch ausleben. Es hat sich in den letzten Jahren ei­niges getan, doch die Zahl der Menschen die in eine diesbezĂŒglich sichere und freie Welt geboren wurden ist noch klein. Denn allzu lang ist es noch nicht her. Und erst am 30.07.2020 twitterte EU KommissionsprĂ€sidentin Ursula von der Leyen: „Unsere VertrĂ€ge stellen sicher, dass alle Personen in Europa die Freiheit haben, zu sein, wer sie sind, zu leben, wo sie möchten, zu lieben, wen sie möchten und so viel Ehrgeiz zu entwickeln, wie sie wollen“. Nun, diese hoffentlich ernst gemeinte Klarstellung in Bezug auf IdentitĂ€t und Orientierung kam dann doch ĂŒberraschend fĂŒr LGBTI, die das Paper der EU-Kommission zur Gleichstellung vom MĂ€rz 2020 lasen, in dem nur von cishetero-MĂ€nnern und cishetero-Frauen, also von den „MĂ€nnern“ und den „Frauen“, die Rede ist. Allerdings mĂŒssen die nicht diskriminierenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stimmen. Und damit ist es wohl noch nicht so weit her. Skepsis bezĂŒglich einer LGBTI geeigneten Umsetzung ist und bleibt wohl auch angebracht.

So hat die Kommission Sittenlehre und Moralphilosophie in biologischen Fragen, kurz die Bioethikkommission, in ihrer „Stellungnahme zur IntersexualitĂ€t und TranssexualitĂ€t“ aus dem Jahr 2017 in den Empfehlungen zur Geschlechtszuordnung in Punkt 9 in Bezug auf einen „staatlichen“ Eingriff in die körperliche IntegritĂ€t eine HintertĂŒr offen gelassen: „
jedoch vermag die fundierte Prognose depressiver Störungen des Kindes und anderer seelischer BeeintrĂ€chtigungen mit Krankheitswert nach allgemeinen GrundsĂ€tzen eine medizinische Indikation zu begrĂŒnden.“ [Gemeint sind hier geschlechtszuordnende Maßnahmen im Neugeborenen- oder Kindesalter] Und damit kann leicht gedient werden. 39% der 27.217 Trans, die den Fragebogen zum U.S. Transgendersurvey 2015 vom Nation Center for Transgender Equality ausgefĂŒllt haben, hatten im Monat der Befragung ernsthafte psychische Probleme. 7% versuchten im Jahr vor der Befragung einen Selbstmord. Da ist diese Prognose doch aufgelegt, oder? Es stellt sich jedoch eine Frage, die durch die Bioethikkommission wohl nicht beantwortet werden kann: Liegen hier medizinische oder biologische GrĂŒnde fĂŒr psychische Probleme vor, oder ist es doch das Resultat der gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse? Es gibt in der Kommission einfach keine fachliche Kompetenz zu Gesellschaftsfragen, setzt sich doch diese Kommission, insgesamt 25 Personen, aus 13 Mediziner*Innen, 8 Jurist*Innen, und 4 Personen aus anderen FakultĂ€ten zusammen, wobei nur eine Person den Sozialwissenschaften zugerechnet werden kann. (M:F = 15:10, nicht einmal „Die Quote“ ist erfĂŒllt) Das ist doch mal ein richtig schönes Beispiel fĂŒr gelebte DiversitĂ€t! Dabei gibt es dazu schon klare Antworten aus der Forschung: Es sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen!

Ich fĂŒhre dieses Beispiel an, da es besonders krass demonstriert, wie mit ein bisschen Wissen sehr fadenscheinig wohlwollend, geradezu paternalistisch, fĂŒr vermeintliche „Grundrechte“ eingetreten wird. Und dies ohne Betroffene zu fragen, geschweige denn im Prozess zu inkludieren. Ja, es stimmt, dass cross-over Vergleiche mehr als schwierig sind. Trans und Inter sind nicht gleich zu setzten, auch wenn es historische Überlappungen gibt. Es handelt sich hier aber um soziale Gender-Inkongruenz, welche die Bioethikkommission Inter hier unterstellt, obwohl diese bei Inter (als „disorder of sex development“) gar nicht so hĂ€ufig auftritt. Dieses Wissen unterstelle ich hier der Bioethikkommission.‹Und die USA und Europa lassen sich in vielerlei Hinsicht vergleichen. Nicht zuletzt ist auch die steigende Zahl jugendlicher Frau zu Mann Trans sowohl in den USA wie auch in Europa nahezu identisch. Als Argument fĂŒr eine „fundierte Prognose“ und um, in diesem Fall „Eltern“, Angst einzujagen reicht es allemal. Und das mit der Angst hat wohl System. Ein Verbot des Eingriffes ohne Informed Consent, wie es auch von der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) in den Standards of Care fĂŒr Trans gefordert wird, ist damit noch lange nicht RealitĂ€t.‹Hier ein klares „Nein!“: Geschlechtsangleichende Operationen an Neugeborenen und Kindern mĂŒssen generell verboten werden!

Warum? Selbst ein selbsterklĂ€rendes Geschlecht, und hier auch nur die dazu gehörenden Organe, ist allein und nur in Fragen der Reproduktion, also mit der FertilitĂ€t, Gegenstand der Medizin. Und die Medizin, das gilt fĂŒr alle Naturwissenschaften, kann die Frage des Geschlechts sui generis einfach nicht eindeutig erklĂ€ren oder gar definieren. Dabei beziehe ich mich auf ein Rechtsgutachten von Mangold, Markwald und Röhner (12/2019) zum deutschen § 45b PStG, welches in der Kernaussage unter Anderem auch fĂŒr das österreichische Personenstandsgesetz und anderen Materien herangezogen werden kann: ‹„
Bisher wurde in der medizinisch-biologischen Forschung also kein eindeutiges biologisches Kriterium identifiziert, das alle anderen ĂŒberlagert und ein biologisch definiertes Geschlecht [
] bestimmen könnte. [
] Medizinisches Wissen ist damit kein stabiles Fundament, auf dem die Rechtsordnung einfach aufbauen und auf welches sie ohne Weiteres zurĂŒckgreifen kann.“‹Geschlecht, welches auch immer, kann demnach nur selbstbestimmt sein. Daher muss das bisherige Vorgehen der Geschlechtsbestimmung grĂŒndlich ĂŒberdacht werden. Eine Möglichkeit wĂ€re die vorlĂ€ufige Auswahl einer Geschlechtsoption durch den*die Erziehungsberechtigte, welche in einem passenden Alter durch die betroffene Person bestĂ€tigt oder geĂ€ndert werden kann.

Also zurĂŒck auf Los! Vielleicht einfach dem Artikel 8 der EuropĂ€ische Menschenrechtskonvention folgend: Recht auf Achtung des Privatlebens, Autonomie des Menschen und Recht auf Selbstbestimmung, Recht auf IdentitĂ€t und Entwicklung der Person, Recht auf körperliche IntegritĂ€t und geistige Gesundheit (und vieles mehr). Waren da nicht auch 8 ausgewiesene Jurist*Innen in der Bioethikkommission?

Mens sana in corpore sano, aber wie?

Ich gehe hier mal von einer konservativen und zurĂŒckhaltenden und durchaus belastbaren SchĂ€tzung von 1:441 = 0,23% Trans in der Bevölkerung aus. Das bedeutet fĂŒr Wien ĂŒber alle Alter hinweg um die 4.000 Trans. Davon gehen nicht alle den ganzen Weg bis zur geschlechtsangleichenden Operation, was mit dem Erkenntnis des VfGH vom 3.12.2009 auch nicht mehr notwendig ist.‹Nun hat Univ.-Prof. Dr. Christian Egarter, selbst auch Mitglied der Bioethikkommission und Leiter der Abteilung fĂŒr GynĂ€kologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin am AKH, in einem Artikel vom 14.11.2019 auf medinlive.at zur Situation der Transsexuellen-Ambulanz am AKH von mehr als 1.300 Personen berichtet, davon ĂŒber 700 Mann zu Frau und ĂŒber 600 Frau zu Mann, welche ein regelmĂ€ĂŸiges Hormonscreening und eine fortlaufende Betreuung in Anspruch nehmen. Nachdem diese Ambulanz nur an zwei Tagen Parteienverkehr hat, kann sich jede* ausrechnen, dass es hier eng ist. Das wĂ€ren 12,5 Personen am Tag, allein bei einem nur einmal jĂ€hrlichen Besuch. Dabei ist der Einzugsbereich der Transsexuellen-Ambulanz nicht auf Wien und Umgebung begrenzt. Es ist die einzige ihrer Art in Österreich. Und ja, es kommen Menschen aus allen BundeslĂ€ndern angereist.‹Dabei reicht die KapazitĂ€t dieser Ambulanz gerade mal fĂŒr ein Drittel der Menschen in Wien, die potentiell eine hormonelle Versorgung in Anspruch nehmen könnten. Wartezeiten von einem Jahr, auch fĂŒr „Bestandskund*Innen“ sind keine Seltenheit mehr und schrecken entsprechend ab, was zu einer vollkommen ungeregelten Versorgung fĂŒhrt, wie zu Selbstmedikation und Beschaffung „inoffizieller“ Medikamente. Daher gab es auch bereits von TransX, der Ärztekammer und der Transsexuellen-Ambulanz selbst den Aufruf an Ärzte im niedergelassen Bereich, sich fĂŒr die fachgerechte Einleitung und Begleitung einer geschlechtsangleichenden Hormontherapie zu melden. Das wĂŒrde auch den Empfehlungen der WPATH entsprechen eine entsprechende ortsnahe „hausĂ€rztliche“ Versorgung zu etablieren. ‹Ein gravierendes Problem ist das gĂ€nzliche Fehlen der Trans und Inter Thematik im verpflichtenden Ă€rztlichen Curriculum, wie es von medizinischen Experten seit Jahren kritisiert wird.‹Ich dilettiere mal wieder in anderen FĂ€chern, denn, wie es ein* junger Non Binary oder Trans mal in einer Gruppe formulierte: „MĂŒssen wir ein Studium mit den FĂ€chern Medizin, Jus, Psychologie und Politikwissenschaften absolvieren, um sein zu dĂŒrfen?“. Es bleibt uns sehr oft nicht erspart, Professionist*Innen diesbezĂŒglich ins Bild zu setzten. ‹Das Problem mangelnder KapazitĂ€ten und fehlenden Spezialwissen kann nur in einer anderen Struktur aufgelöst werden. Dabei ist das Modell ein zunĂ€chst mal unabhĂ€ngiges interdisziplinĂ€res Gender-Competence-Center einzurichten, wie es bereits in anderen LĂ€ndern etabliert ist, eine gute Möglichkeit. Denn Gender Kompetenz ist nicht allein in Trans und Inter Fragen relevant und wĂ€re ein Fundament einer umfassenden Gesundheitsversorgung aller Menschen. Dieses Zentrum wĂ€re auch eine zentrale Anlaufstelle fĂŒr den niedergelassenen hausĂ€rztlichen Bereich womit auch die Forderung der WPATH nach einer erreichbaren Versorgung erfĂŒllt wĂ€re. ‹Es gibt zwar bereits verschiedene Gender Units, welche sich vornehmlich mit Forschung beschĂ€ftigen. In der Grundversorgung von Trans und Inter geht es aber definitiv um etablierte und bereits definierte Regelleistungen. Daher wĂ€re es konkret ein „Gender-Competence-Center fĂŒr evidenzbasierte angewandte Medizin“. Eine begleitende Forschung wĂ€re vielleicht wĂŒnschenswert, geht aber weit ĂŒber die Grundversorgung mit Hormon­screening und geschlechtsangleichenden Operationen hinaus, welche in Österreich einfach nicht vorhanden ist. Damit hĂ€ngt derzeit das Grundrecht auf Gesundheit fĂŒr Trans und Inter weiter in der Luft.

Körperliche Unversehrtheit, mit oder ohne „(wieder)herstellende“ Operation ist eine Grundvoraussetzung fĂŒr psychosoziale Gesundheit. Dazu ist eine Reprise in der nĂ€chsten Lambda geplant. λ

[Anm. der Autorin: Wir sprechen von MĂ€nnern und Frauen und nicht von mĂ€nnlichen oder weiblichen Personen. Es ist eine Frage der IdentitĂ€t. Daher verwende ich Trans und Inter bewusst identitĂ€tspolitisch innerhalb des binĂ€ren Geschlechterregimes, auch wenn Trans und Inter manchmal einfach nur als Frauen und MĂ€nner oder ganz anders gesehen werden wollen und trans und inter nur als ein zusĂ€tzliches Attribut von vielen fĂŒhren.]

Von Mia Mara Willuhn

Soziologin in Wien und seit Beginn der 1990er Jahre Transaktivistin. Sie hat 1992 die Selbsthilfegruppe fĂŒr Trans in der Rosa-Lila-Villa mitbegrĂŒndet, wie auch den Verein TransvestitIn 1994.