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Gesundheit und Selbstbestimmung für Inter*

Welche Rolle spielt dabei die Peer-Beratung?

Wenn es um Intergeschlechtlichkeit geht, geht es immer auch um das Thema Gesundheit. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen machen Erfahrung damit, dass (die Gesundheit) ihre(r) Körper in Frage gestellt werden. Eine untypische Geschlechtsentwicklung gilt als „abnorm“. Im Sozialen genauso wie im Medizinischen wird unsere Existenz in Frage gestellt, wenn es heißt: „Bist du ein Mädchen oder ein Bub?“ Untersuchungen, Operationen und Medikamente sollen unsere Geschlechtlichkeiten „klären“ und nach gesellschaftlichen, binären Vorstellungen „vereindeutigen“. Die Realität angepasst zu werden ohne Notwendigkeit, ohne uns zu fragen, bzw. dem Druck dazu ausgesetzt zu sein, hat einige Folgen für unsere Gesundheit.

Zur Ausgangslage…

Bei Intergeschlechtlichkeit handelt es sich um Variationen der Geschlechtsmerkmale (VdG), die während der Schwangerschaft, Geburt, in der Pubertät oder später ersichtlich werden können (oder auch nie). Insgesamt betrifft das ca. 1,7% der Bevölkerung. Bei den Geschlechtsmerkmalen geht es um Ausprägungen von inneren und äußeren Geschlechtsorganen, sowie Genetik (Chromosomen) und Hormonen, die auch die sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale beeinflussen. Das bedeutet, dass Genitalien und andere Geschlechtsmerkmale individueller aussehen oder angelegt sein können, bestimmte Geschlechtsentwicklungen ausbleiben oder üblicherweise „dem anderen“ Geschlecht zugeordnet werden. Meist werden Menschen mit diesen Auffälligkeiten rund um strikt voneinander getrennte weibliche und männliche Geschlechtsmerkmale anhand des Internationalen Krankheitsindex bzw. aus dem medizinischen Spektrum der „Varianten der Geschlechtsentwicklung“ diagnostiziert. Das heißt, zahlreiche körperliche Variationen gelten als Krankheiten von Männern oder Frauen. Dadurch sind diese Menschen von Pathologisierung betroffen und werden häufig als behandlungsbedürftig angesehen – auch wenn sie in der Regel gesund sind. Besonders problematisch ist das, wenn die Betroffenen noch Kinder sind und ohne deren Zustimmung, Entscheidungen getroffen werden, die in ihre Körper eingreifen und diese irreversibel verändern.

…in der Welt der zwei Geschlechter

In der Gesellschaft sind wenig Wissen, Sprache und Räume zu Geschlechtervielfalt vorhanden. Es herrscht ein großes Tabu darum, wenn jemand nicht in die vorge­gebene Norm von Mann oder Frau zu passen scheint. Das führt dazu, dass Kinder und Jugendliche mit Variationen der Geschlechtsmerkmale häufig mit den Gefühlen von Isolation und nicht „richtig“ zu sein und (belastenden) Geheimnissen aufwachsen. Gerade für diese und ihre Familien fehlt es an Sichtbarkeit, positiven Vorbildern und Geschichten. Aufgrund sozialer Gründe wie z.B. Ängste vor Ausgrenzung oder Ablehnung, durch überholte Statistiken (beispielsweise zu Krebsrisiken) und veraltete Vorstellungen kindlicher psycho-sexueller Entwicklung werden invasive medizinische Eingriffe an den Geschlechtsmerkmalen auch heute noch oft seitens der Medizin oder der Eltern befürwortet. Die Frage nach der Notwendigkeit dieser Eingriffe ist entscheidend, wobei diese sich nach medizinischer Indikation zu richten hat. Die Definition stellt sich in der Praxis allerdings als dehnbar heraus, obwohl dies rechtlich klar geregelt sein sollte. Eine Person muss vollumfassend aufgeklärt werden und zustimmen können, wenn es um Interventionen geht, die nicht zu ihrer Lebensrettung dienen. Eine dringliche Gefahr für die Gesundheit, die nicht aufschiebbar ist, wäre z.B. ein Notfall, in dem die Ärzt*innen auch ohne Konsens der Betroffenen entscheiden können. Kinder können an sich schon nicht zustimmen, wenn es darum geht, ihre Genitalien „femininer“ oder „maskuliner“ zu operieren. Wenn man ihre hormonproduzierenden Organe (Eierstöcke, Hoden, Mischgewebe) entnimmt, müssen die fehlenden Hormone ein Leben lang zugeführt werden. Es kann zu zahlreichen physischen Beeinträchtigungen wie chronische Schmerzen, Taubheitsgefühle, Probleme beim Harnlassen und vielen anderen kommen, auch können weitere Operationen in Folge nötig sein. Ständige Untersuchungen werden mitunter als psychologische und sexuelle Übergriffe erlebt. Der Vertrauensbruch, der von den Kindern zu ihrer Familie entstehen kann, weil über ihre Köpfe hinweg entschieden wurde, und die Scham über den eigenen Körper beeinflussen auch die psychische Gesundheit und das spätere soziale Leben. Nicht selten gibt es Verzögerungen im Bildungsweg und Schwierigkeiten, Intimität zuzulassen. Dazu kommt der Druck oder Wunsch „normal“ zu sein; denn auch später ist man oft im Alltag damit konfrontiert, dass andere nicht wissen, was Intergeschlechtlichkeit bedeutet. Zusammengefasst: Bei vielen intergeschlechtlichen Menschen sind Traumatisierungen eine Realität in ihrem Leben. Dabei ist die Existenz von vielfältigen Körpern und Identitäten „normal“ – und gab es auch schon immer. Diese Erfahrungen fühlen sich aber alles andere als normal an. Es ergeben sich vielmehr die Fragen: Woher sollen Erwachsene wissen, wie sich ein Kind psychisch und physisch entwickeln wird, welche Identität und Sexualität es haben wird? In welchem Körper es leben will? Wer weiß das besser, als die Person selbst, wenn sie alt genug und entscheidungsfähig ist, um sich dazu mitzuteilen?

Es braucht sensibilisierte Begleitung und Bestärkung!

Wie in einigen anderen Ländern auch ist die Interessensvertretung VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich) aus Selbsthilfe-Treffen und der Notwendigkeit heraus entstanden, eine bis dahin nicht vorhandene Anlaufstelle für Menschen mit Variationen der Geschlechtsmerkmale und Angehörige zu schaffen. Bei Selbsthilfe-Treffen bzw. exklusiven Inter*-Treffen können diese sich in geschütztem Rahmen austauschen und angstfrei über Dinge sprechen, die die Umwelt oft nicht zu verstehen scheint. Gerade zu sozialen und medizinischen Themen gibt es viele Fragen, Erfahrungen und Belastungen. Wir erfahren dadurch seit Jahren, wie es Menschen geht, die eine oder mehrere der VdG-Diagnosen erhalten haben oder ein Verdacht im Raum steht. In der Regel sind diese Menschen und ihre Familien allein gelassen mit Situationen, in denen sie Diagnosen zu erfahren, Behandlungen vorgeschlagen zu bekommen und ganz persönliche Fragen zu haben. Oft ist Intergeschlechtlichkeit etwas, von dem sie noch nie gehört haben und auch im medizinischen Kontext meist nicht positiv kennenlernen können. Aus Begegnungen in der Inter*-Community kristallisiert sich sogar heraus: Nicht selten wissen Menschen über (ihre) Variationen oder Wirkung und Folgen von bestimmten Medikamenten und Eingriffe mehr Bescheid als nicht-betroffene Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten. Ein Selbsthilfe-Treffen kann und darf aber eine Beratung jeglicher Art nicht ersetzen.

Peer-Beratung bei VAR.GES

Ein wichtiger Schlüssel-Moment für viele ist, andere Menschen kennen zu lernen, die ähnliche Geschichten teilen. Eine von der Klinik unabhängige Peer-Beratung durch intergeschlechtliche Erwachsene und Eltern, die „wissen, wie es ist“ bietet hier einen unersetzbaren Austausch und Begleitung. Gespräche können auf Augenhöhe geführt, Erfahrungen geteilt und medizinische Beratung gemeinsam reflektiert werden. Ebenso können andere Fragen zur eigenen Situation Platz finden, die die Betroffene beschäftigen, wie u. a. soziales Umfeld, Outing, Identität, Sexualität und Geschlechtseinträge.

Diesen wertvollen Kontakt zu Erfahrungs-Expert*innen sollten alle gesundheitlichen und sozialen Berufsgruppen fördern, denn er stellt eine essentielle psycho-soziale Unterstützung dar. VIMÖ hat diesbezüglich das erstmalige Bildungs- und Peer-Beratungs-Projekt VAR.GES gegründet, das neben dem Angebot von Bildungsformaten zum Thema Geschlechtervielfalt auch Peer-Beratung von und für Menschen mit VdG und von und für Angehörige bietet. In diesem Sinne, wir freuen uns über Kontaktaufnahme und Weitergabe unseres Kontakts! λ

Mehr Infos unter:
www.vimoe.at
www.varges.at
www.plattform-intersex.at

Von Tinou Ponzer

Obmensch VIMÖ (www.vimoe.at)
(Foto Credits: VIMÖ/Leo Handle)