Die UN-Behindertenrechtskonvention definiert im Artikel 1 Menschen mit Behinderung als Menschen, welche âlangfristige körperliche, seelische, geistige oder SinnesbeeintrĂ€chtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern könnenâ. Eine Behinderung kann somit nicht nur Sinnesbehinderungen oder MobilitĂ€tseinschrĂ€nkungen betreffen, sondern zum Beispiel auch durch chronische/psychische Erkrankungen, kognitive BeeintrĂ€chtigungen und/oder Neurodivergenz etc. auftreten und zu einer Behinderung werden.
Nicht alle BeeintrĂ€chtigungen sind daher auf den ersten Blick oder ĂŒberhaupt erkennbar. Sogenannte âunsichtbareâ bzw. ânicht-sichtbareâ Behinderungen erkennt man von auĂen nicht oder nur teilweise. Nicht-sichtbare Behinderungen sind genauso vielfĂ€ltig wie andere Behinderungen und können sich auch bei ein- und derselben Diagnose unterschiedlich auswirken. Beispiele fĂŒr nicht-sichtbare Behinderungen sind etwa Multiple Sklerose, Endometriose, Diabetes, Epilepsie, chronische Darmerkrankungen oder Autismus. Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen benutzen teilweise MobilitĂ€tshilfen (Gehstock, Rollstuhl, etc.), aber nicht alle. Manche haben eine sogenannte âdynamische Behinderungâ, was bedeutet, dass sie manchmal bestimmte Hilfsmittel bzw. MobilitĂ€tshilfen brauchen und manchmal nicht. Die AusprĂ€gung der Behinderung kann auch fluktuieren und sich zum Beispiel von Tag zu Tag, je nach Verfassung, unterscheiden.
Facetten der Diskriminierung
Menschen mit Behinderung sind oft Vorurteilen, Barrieren oder Bevormundung ausgesetzt. Diese Form von Diskriminierung wird âAbleismusâ genannt. Innerhalb des Ableismus gibt es verschiedene Unterscheidungen, beispielsweise zwischen dem âabwertendenâ Ableismus (Diskriminierung aufgrund Ungleichbehandlung) und âaufwertendenâ Ableismus (Zuschreibung von FĂ€higkeiten âtrotzâ der Behinderung), oder eben Diskriminierung von sichtbaren und nicht-sichtbaren Behinderungen.
Nicht selten passiert es, dass Menschen mit sichtbaren Behinderungen scheinbar harmlose oder âgut gemeinteâ Bemerkungen, Fragen oder Handlungen erleben. Der Fachbegriff fĂŒr solche Situationen nennt sich âMikroaggressionâ, welcher ursprĂŒnglich im Umgang mit rassistischen Alltagserfahrungen entstanden ist, aber auch im Zusammenhang mit anderen Formen der Diskriminierung verwendet wird. Beispiele dafĂŒr wĂ€ren das unaufgeforderte âHelfenâ einer Person im Rollstuhl durch Anschieben der MobilitĂ€tshilfe, oder ausschlieĂliche Kommunikation mit der Begleitperson. Anhaltendes Starren sowie private Fragen nach der Diagnose oder dem Sexualleben zĂ€hlen genauso zu Invasionen der PrivatsphĂ€re. Betroffene erleben diese Mikroaggressionen als belastend, weil sie (auch unbeabsichtigt) bestimmte abwertende und verallgemeinernde Botschaften transportieren. Das wiederholte Erleben von solchen Situationen kann in Summe einen hohen Grad an âMinderheiten-Stressâ auslösen.
Die Ursache hinter Ableismus und Mikroagressionen ist oft groĂes Unwissen im Umgang mit Behinderungen und lĂ€ngst ĂŒberholte Weltbilder im Zusammenhang mit dem Thema. Behinderte Menschen seien etwa âunbeholfenâ und âfĂŒr alles auf fremde Hilfe angewiesenâ. Die Behinderung selbst sei eine rein negative, leidvolle Erfahrung, die unbedingt vermieden oder beseitigt werden muss. Diese Vorstellungen resultieren oft in unerwĂŒnschten Mitleidsbekundungen oder umgekehrt in Lob fĂŒr AlltĂ€gliches, wie etwa Anerkennung dafĂŒr, allein einkaufen zu gehen und âdas Leben zu meisternâ. FĂŒr viele Menschen ist nicht oder nur schwer vorstellbar, dass Menschen mit Behinderung eine gleichwertig vollkommene LebensrealitĂ€t fĂŒhren können.
Unsichtbar ist ungreifbar
Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen kĂ€mpfen oft mit einem starken Anpassungsdruck, denn sie sind der Erwartungshaltung ausgesetzt, AlltĂ€gliches und andere Herausforderungen im Leben mit derselben Energieleistung wie Menschen ohne Behinderung zu meistern. Nicht selten ist es allerdings so, dass der Umgang mit der Behinderung allein schon viel Energie fordert, und die restlichen Lebensaufgaben, wie zum Beispiel ein Studium oder Erwerbsarbeit, eine Zusatzbelastung darstellen. Der Leistungsdruck kann zur Ăberforderung und in weiterer Folge bis zu einem Studienabbruch oder zur KĂŒndigung der betroffenen Personen fĂŒhren. Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen haben auĂerdem oft damit zu kĂ€mpfen, sich erklĂ€ren oder rechtfertigen zu mĂŒssen. HĂ€ufig wird von ihnen verlangt, dass sie AuĂenstehenden âbeweisenâ, dass sie eine Behinderung haben, was wiederum eine Form des Ableismus ist. Ob sich eine Person mit Behinderung âoutenâ möchte (also das öffentliche Bekanntmachen der eigenen Behinderung) ist Ă€hnlich wie bei SexualitĂ€t eine sehr sensible, individuelle Entscheidung. Manche Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen nehmen sich nicht als âbehindertâ wahr, oder haben Angst davor, nach einem Outing stigmatisiert und ausgegrenzt zu werden. Es kann andererseits auch Vorteile haben, geoutet zu sein, wie etwa durch sogenannte âNachteilsausgleicheâ. Diese Ausgleiche fĂŒr MehraufwĂ€nde können sich zum Beispiel in Form von modifizierten Studien- oder PrĂŒfungsbedingungen oder Zusatzurlaub beantragen lassen.
Innerhalb der Gruppe von Menschen mit nicht sichtbaren Behinderungen gibt es auch noch weitere Unterscheidungen, und die wahrscheinlich am stĂ€rksten stigmatisierte Gruppe ist jene mit psychischen Erkrankungen. Diese Menschen sind oft aufgrund der Krankheit mit negativen Stereotypen konfrontiert. Beispielsweise werden Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, hĂ€ufig als gewalttĂ€tig und unberechenbar eingestuft. Menschen mit Depressionen oder einer Suchterkrankung bekommen oft zu hören, ihnen fehle nur die nötige Selbstdisziplin. Die Angst vor sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung hĂ€lt viele Menschen davon ab, sich in Behandlung zu begeben, was in weiterer Folge dazu fĂŒhren kann, dass die Erkrankung chronisch wird. Die Diskriminierung und Stigmatisierung findet wie bei fast allen Minderheitsgruppen in jedem Lebensbereich statt. Angefangen in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, ĂŒber den Studien- oder Arbeitsplatz bis hin zur Politik und der Darstellung psychisch erkrankter Menschen in den Medien. Tatsache ist jedoch, dass psychische Erkrankungen jede Person jederzeit betreffen können und daher keinerlei RĂŒckÂschlĂŒsse auf die Leistungs- und BelastungsfĂ€higkeit oder den Charakter eines Menschen zulassen.
Mehrfachdiskriminierung
âIntersektionalitĂ€tâ ist die Ăberschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Formen von Diskriminierung gegenĂŒber einer Person in der Gesellschaft. Queere Menschen mit Behinderung sind daher einer Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt. Oftmals ĂŒberschneiden sich Herausforderungen von queeren Menschen mit und ohne Behinderung, teilweise entstehen aufgrund der Behinderung neue. Ein zentraler Punkt der Thematik Behinderung und Queerness ist die Tatsache, dass behinderten Menschen generell in der Gesellschaft SexualitĂ€t abgeschrieben wird. Sexuell aktive oder willige behinderte Menschen sind fĂŒr die Allgemeinheit unsichtbar: laut dem Gender-Gesundheitsbericht 2024 fehlen Daten fĂŒr Ăsterreich zum Thema sexuelle und reproduktive Gesundheit von Menschen mit Behinderungen gĂ€nzlich. Dass Menschen mit Behinderung nicht nur sexuell interessiert, sondern dann auch noch schwul, lesbisch oder anders queer sein können, ist fĂŒr viele undenkbar. Doch auch innerhalb der queeren Szene ist nicht immer alles so diskriminierungsfrei, wie man sich das wĂŒnschen könnte. Lokalbesuche sind oft nicht barrierefrei, wenn nur eine Treppe zur TanzflĂ€che fĂŒhrt, und meist sind auch die sehr lauten, lichtergrellen Diskotheken fĂŒr hochsensible Menschen nicht besuchbar. Umso wichtiger sind MaĂnahmen und Angebote, welche eine möglichst barrierefreie AtmosphĂ€re bieten. IntersektionalitĂ€t ist somit ein Thema, mit dem sich jede queere Person auseinandersetzen sollte, vor allem diejenigen, die es nicht oder nur wenig betrifft.