Bekomme ich eine Einladung zu einem Klassentreffen, zieht sich mein Magen zusammen. Dann kommen alte Erinnerungen hoch. Denn in der Schule wurde mir zum ersten Mal so richtig bewusst, dass ich anders bin. Zwar haben mir die Eltern eingetrichtert, dass ich meine Behinderung verstecken soll. Doch das ist nicht immer möglich. Wenn ich mit Menschen länger zusammen bin, wie damals in der Schule, machen sich meine körperlichen Einschränkungen bemerkbar. Ich bin mehrfachbehindert, da ich mit einer seltenen genetischen Erkrankung geboren wurde. Zu meiner Erkrankung gehört, dass ich seit meiner Kindheit Symptome hatte, wie man sie von älteren Menschen kennt, wie Schwerhörigkeit (Taubheit auf dem rechten Ohr, auch auf dem linken Ohr höre ich weniger), Sehbehinderung (auf einem Auge sehe ich fast gar nichts), graue Haare, Altersflecken, schwächerer Körperbau. Ich muss regelmäßig zu Untersuchungen. Verschlechtert sich die Situation, sind medizinische Eingriffe notwendig. Um kein allzu starker Außenseiter zu sein, habe ich die grauen Haare färben lassen. Damit niemand die Altersflecken sieht, trug ich auch im Sommer lange Kleidung. Besonders geholfen hat mir das Lippenlesen.
Trotzdem wurde ich in der Schule ausgegrenzt. So bekam ich in der Volksschule im Turnunterricht die schlechteste Note von allen Mitschüler*innen in meiner Klasse. Denn ich konnte die erforderlichen sportlichen Leistungen nicht erbringen. Der Lehrer sagte mir, er sei bei der Notenvergabe an die schulischen Vorgaben gebunden und könne leider nichts machen. Der Lehrer versicherte mir aber, dass er mich im Turnunterricht nicht durchfallen lassen werde. Es klang so, als ob ich ihm dafür dankbar sein müsse. Das Ganze zog sich bis zur Matura. Ich hatte in allen Jahreszeugnissen im Turnunterricht immer die schlechteste Note. Bei Mannschaftsspielen wurde ich als Letzter ausgewählt. Ich wurde von Mitschüler*innen mit bestimmten Schimpfwörtern, die ich hier nicht wiedergeben möchte, gemobbt.
Schwierig war für mich auch der Musikunterricht. Ich kann wegen der Schwerhörigkeit nicht singen. Trotzdem musste im Gymnasium bei der Prüfung jede*r Schüler*in vor der versammelten Klasse ein Lied vorsingen. Ich sang das Lied völlig falsch. Die ganze Klasse lachte mich aus. Das „Musiktrauma“ ist bis heute geblieben. Ich meide Veranstaltungen oder Feiern, auf denen die Menschen viel zum Mitsingen aufgefordert werden. Ich hoffe, dass behinderte Menschen heute im Unterricht anders behandelt werden. Doch ich bin den 1970er Jahren tief in der österreichischen Provinz aufgewachsen. Für mich war dieses Notensystem ungerecht. Ich habe mir meine Behinderung nicht ausgesucht. Auch wenn ich mich noch so anstrengte, konnte ich im Turnunterricht keine besseren Leistungen erbringen. Ich hasste damals meinen Körper. Es gab Tage, da hätte ich mein Hörgerät und die Sehbehelfe am liebsten zerstört. In der Pubertät wurde es schlimmer. Denn ich entdeckte auch, dass ich auf Männer stehe. Dann hasste ich meinen Körper noch mehr. Ich hatte Suizidgedanken und viel Wut. Ich habe mich nicht selbst verletzt. Ich lebte meine Zerstörungswut beim Spielen aus. Computerspiele gab es damals nicht. Ich zog mich am Nachmittag in mein Zimmer zurück und spielte viel mit Lego. Ich baute mit Lego Häuser und Türme, die ich dann mit voller Wut zerstörte, was mir psychische Erleichterung verschaffte.
Ich baute einen Panzer um mich auf
Aus Angst, ausgegrenzt und gemobbt zu werden, mied ich andere Menschen. Ich baute einen Panzer auf und tat viel, um wenig aufzufallen. Ich wollte nicht auf meine Behinderung angesprochen werden. Gleichzeitig musste ich wegen der Schwerhörigkeit und der Seheinschränkungen in der Klasse vorne sitzen, um dem Unterricht folgen zu können. Ich hatte einen Neid auf Menschen, die nicht behindert waren und unbeschwert ihr Leben führen konnten.
Als ich nach der Matura nach Wien zog, tat ich mich anfangs in der schwulen Community schwer. Denn Teile der schwulen Community sind stark auf das Aussehen fixiert. Hier konnte ich mit der Behinderung schwer mithalten. Ich habe keine offene Behindertenfeindlichkeit erlebt. Die Diskriminierung verlief subtiler. Ich habe früher auf Dating-Plattform verschiedene Profile ausprobiert. Wenn ich die Behinderung angegeben habe, meldete sich kaum jemand. Auch machte es einen großen Unterschied, ob ich ein Foto mit grauen oder mit gefärbten Haaren hochgeladen habe. Solche Erfahrungen machen aber nicht nur Schwule mit Behinderungen. Ich kenne auch viele heterosexuelle Menschen mit körperlichen Einschränkungen, denen es ähnlich ergeht.
Im Laufe der Jahre und durch Psychotherapie habe ich gelernt, dass ich die Welt und viele Mitmenschen nur bedingt ändern kann. Ich habe gelernt, Grenzen zu setzen. Ich meide Menschen und Situationen, die mir nicht guttun. Damit habe ich die Opferrolle verlassen. Als Kind konnte ich mich gegen die Diskriminierung schwer wehren. Es gab damals kein Internet. Ich konnte vom Dorf nicht so einfach zu einer Beratungsstelle in die Stadt fahren. Meine Eltern meinten, ich soll mich in der Schule nicht aufregen. Denn sie hatten Angst, dass ich in die Sonderschule abgeschoben und damit noch mehr ausgegrenzt werde.
Weg mit alten Glaubenssätzen
Heute suche ich mir mein Umfeld aus. Ich entscheide, mit welchen Menschen ich mich treffe. Ich kann mich beschweren, wenn ich ungerecht behandelt werden. Vieles hängt auch von meiner inneren Einstellung ab. Früher hielten mich Glaubenssätze gefangen wie „Immer trifft es mich“ oder „Ich will, aber es geht nicht …“ Passiert mir heute etwas Unerfreuliches, versuche ich aktiv an die Sache heranzugehen und das Beste daraus zu machen. Denn ewiges Jammern bringt mich nicht weiter. Ich habe aufgehört, mich mit anderen Menschen zu vergleichen. Es wird immer Personen geben, die schöner und besser sind.
Das Wichtigste ist, dass ich mich selbst angenommen habe. Früher habe ich gedacht, ich bin erst liebenswert, wenn meine Behinderung weg ist, wenn ich sportlicher bin und beruflich mehr leiste. Als Kind und Jugendlicher haben mich meine Eltern zu allen möglichen Ärzt*innen gebracht. Diese haben betont, dass bei mir keine Heilung möglich ist. Doch meine Eltern wollten das nicht hören. Sie haben neue Ärzt*innen gesucht und sind mit mir sogar zu spirituellen Wunderheiler*innen gefahren. Behinderung galt früher auf dem Land als Stigma.
Als Erwachsener habe ich den Kampf gegen meine Behinderung beendet. Das ist keine Resignation, sondern eine aktive Entscheidung zu einem Perspektivenwechsel. Es hängt von meiner inneren Einstellung ab, wie ich mit Stress und in Krisensituationen umgehen. Ich habe aufgehört, die Schuld in äußeren Umständen zu suchen. Ich habe gelernt, wie ich in schlechten Zeiten für mich sorgen kann. Ich bin dankbar für Mentor*innen und Freund*innen, die mich begleiten. Früher habe ich mich darauf fokussiert, was ich nicht kann. Dies führte zu Neid und Selbsthass. Heute akzeptiere ich die Grenzen, die mir der Körper setzt. Ich bin dafür dankbar, was ich kann und was mit der Behinderung möglich ist. Ich bin für mein Denken, mein Handeln und meine Sichtweise auf meinen Körper selbst verantwortlich. Dieser Weg ist nicht immer einfach, doch er lohnt sich.