Die Viennale 2024
Das Paradies ist für jede/n etwas anderes. Für die Schweikhart-Brüder aus Pablo Siggs „Lamaland“-Trilogie, die sich als letzte Nachkommen von Nietzsches Siedlung (ursprünglich von dessen Schwester in seinem Namen gegründet) sehen, scheint die Hölle im dritten Teil mit „Paradies“ (Mexiko/Schweiz) ins Gleichgewicht gekommen zu sein. Noch immer lauern sie um einander herum; das aber einen Tick weniger blutrünstig als in den vorherigen Teilen „Satan“ und „Totentanz“. Zwar steht die Hütte im paraguayischen Dschungel immer noch verwahrlost da, strotzt der Dreck, der sich um sie herum sammelt, immer noch aus allen Poren, und bilden ihre Lumpen einen schwarz-weißen Kontrast zum Urwald, doch erscheinen sie auch voll gelassener Lebenslust in der „Gespensterveranstaltung“ (aus dem Katalog). Es ist jedes Mal ein kauziges Vergnügen, wenn das METRO-Kino zu einer neuen Episode ins Leben des grausig-schrulligen Paares einlädt.
„No Other Land“ (Palästina/Norwegen) von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor weist ähnliche Gegensätze, aber kein Amüsement auf, wenn die Filmemacher*innen dem Journalisten ihre palästinensischen Heimatdörfer im Westjordanland zeigen, deren Zwangsumsiedlung vor zwei Jahren für rechtens erklärt wurde. Immer noch harren einige Bewohner*innen entschlossen aus und stellen sich den Bulldozern entgegen.
Von einem ganz anderen Planeten scheint Annie Bakers „Janet Planet“ (USA/UK), der bereits bei der diesjährigen Berlinale für ausverkaufte Kinosäle sorgte, zu sein. Die elfjährige Tochter Lacy der titelgebenden Mutter hat Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen, weigert sich, im Feriencamp zu bleiben, schmiert ihre Haare überall hin und verbraucht das Shampoo der Freundin der Mutter, die darüber gar nicht amüsiert ist. Wohl aufgrund der wechselnden Männerfreundschaften von Janet und einer Frauenfreundschaft, die Lacy auch nicht ganz versteht, aber besser zu ertragen scheint, macht sie sich unter anderem über ihre Identität Sorgen und fühlt sich aufgrund der exzessiven Beschäftigung der Mutter mit älteren Männern oftmals vernachlässigt, während die Mutter streckenweise überfordert ist und sich Rat bei vermeintlichen Verbündeten holt – was wie Verrat an der Tochter wirkt. Der Film kommt wie ein französisches Sommerdrama daher und klingt als freundlich-gespenstische Waldidylle in Massachusetts aus. Ein wenig queer wirkt er aufgrund der intensiv-intimen Freundschaft zwischen Janet und der haltlosen Besucherin zudem auch, obwohl nichts explizit Belegbares auszumachen ist.
Andreas Dresen stellte seinen Spielfilm dokumentarischen Hintergrunds „In Liebe, Eure Hilde“ vor, der ebenfalls bereits bei der Berlinale für Bewunderung sorgte und bei Erscheinen dieser Besprechung noch in den Wiener Kinos laufen sollte. Dresen ist der mit den vielen tollen deutschen Filmen, die er seit nunmehr 25 Jahren präsentiert – „Nachtgestalten“, 1999, „Halbe Treppe“, 2002, „Sommer vorm Balkon“, 2005, „Als wir träumten“, 2015, „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“, 2022 – und wieder hat er einen Coup gelandet. Mit anfangs vielen Outdooraufnahmen und auch ein bisschen Liebesspiel, das zeitweilig erschreckend nüchtern-realistisch daherkommt, geht es hier allerdings nicht um mehr oder weniger tragische Nacht- und Taggestalten, die am Ende entweder ihre Beziehung, einen unglücklich Gestrandeten oder einen vermeintlich Abtrünnigen retten, sondern um die Widerstandsgruppe um Hans und Hilde Coppi im Berlin der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Im Gegensatz zur Serie „Babylon Berlin“, wo Liv Lisa Fries berlinerisch-frech und draufgängerisch daherkommt, tritt sie in dem Widerstandsdrama zunächst vorsichtig-ängstlich und später abgeklärt-resigniert auf, als ihr klar wird, dass es ab einem gewissen Punkt kein Zurück mehr gibt. Ein wundervoller Film, der traurig macht, wenn man bedenkt, wie unnötig diese menschliche Grausamkeit ist, die sich in anderen Ausmaßen regelmäßig zu wiederholen scheint.
Mit dem Thema Krieg hat sich auch Roberto Minervini beschäftigt, und zwar in seinem rein fiktionalen Werk „The Damned“ (Italien/USA/Belgien). Er geht dem Thema „auf den absurden Grund“ (aus dem Katalog) und wurde dafür in Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet. Jedenfalls werden Soldaten der Unionsarmee gezeigt, wie sie während des amerikanischen Bürgerkriegs im Winter 1862 die Front im Westen verteidigen und sich in Gesprächen mit ihren Schicksalsgenossen darüber klarwerden wollen, was sie hier eigentlich tun und vor allem warum sie das tun. Gibt es einen Sinn, für den es sich lohnt, zu sterben? Wie steht es um das nationale Gewissen, oder steht nicht doch die eigene Unversehrtheit und Freiheit über der scheinbaren Verpflichtung, seinen Mann zu stehen? Darin gibt es ohne weiteres auch zärtliche Szenen, die dem Thema Krieg entgegengesetzt werden, wenn die Männer sich zum Beispiel zu intimen Dialogen zurückziehen oder sich der Körperpflege am eisigen Fluss widmen.
Abschlussfilm der diesjährigen Viennale ist jener von Mati Diop als Gewinnerin des diesjährigen Goldenen Bären: „Dahomey“. Es geht darin um Raubkunst aus der französischen Kolonialzeit in Afrika und deren Rückkehr in den heutigen Staat Benin. Die Studierenden einer Universität, die die Geschichte und Ereignisse diskutieren, bilden den Mittelpunkt in der Auseinandersetzung um unwiederbringlich Verlorenes und Bemühen um Wiedergutmachung.
Und dann gab es natürlich auch die etwas leichteren Filme, die ein begeistertes Viennale-Publikum anzogen, so zum Beispiel der französische Dokumentarbeitrag „Ce n’est qu’un au revoir“ von Guillaume Brac, der eine Gruppe von Schüler*innen an einem Internat begleitet, die sich in ihrer Abschlussklasse auf den Ernst des Lebens und ihre weiteren Wege vorbereiten. Es wird viel gescherzt, gespielt und gelacht, aber manchmal auch zusammen geweint, und ein Jüngling in der Mädchengruppe erhält eine neue Frisur, die ihn aus der unbeschwerten gender-harmonischen Welt in den Konkurrenzkampf um einen renommierten Studienplatz entlässt. Nicht weniger verspielt, aber auch nicht weniger ernsthaft geht es in dem ebenfalls französischen Beitrag „Averroès & Rosa Parks“ von Nicolas Philibert zu. Ins Blickfeld geraten hier zwei Psychiatriestationen und die darin angesiedelten „neurodiversen“ Patient*innen, die in teils endlosen Redeschleifen von ihren Sorgen, Nöten und Hoffnungen erzählen. Ein anderer Film, der bereits bei der Berlinale gezeigt wurde, ist der US-amerikanische Beitrag „A Different Man“ von Aaron Schimberg. Darin erhält jemand eine Wunderheilung, die sein Gesicht verschönert. Er glaubt, damit sowohl als Schauspieler als auch bei potentiellen Sexualpartner*innen besser anzukommen. Als dem nicht so ist und er daran verzweifelt, dass er nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist, dreht sich alles um, was seine Identität bisher bestimmte. Der Film ist tiefgründig, kommt aber vordergründig einfach daher. Gut, wenn man ihn fünfmal anschauen kann, um sich über die eigenen Gefühle hinsichtlich des Gezeigten und auch die eigenen Vorurteile gewahr zu werden. Begeistert hat mich dagegen „The Outrun“ (UK/D) von Nora Fingscheidt, die vor fünf Jahren mit „Systemsprenger“ von sich reden machte. Nun kam sie mit ihrer Trinkergeschichte um eine Frau aus London zur Viennale, die es zurück auf die Insel ihrer Heimat verschlägt, weil sie sich von ihrer leidenschaftlichen Abhängigkeit befreien will, was sich, wie zu erwarten, als nicht so einfach umsetzbar herausstellt. Immer wieder verfällt sie dem Rausch, ohne den das Leben eintönig erscheint. Eindrucksvoll spielt Saoirse Ronan die Protagonistin Rona, die sich bemüht, ihr Leben in ruhigere Bahnen zu lenken.
Für mich darf im Übrigen bei keinem Festival die französische Charakterschauspielerin Isabelle Huppert fehlen, die in „La Prisonnière de Bordeaux“ von Patricia Mazuy eine besonders begeisternde Figur macht. Neben und mit ihr Hafsia Herzi als Mina, die wie Alma regelmäßig ihren Ehemann im Knast besucht. Zwischen den gegensätzlichen Frauen, was Alter, Herkunft und Temperament angeht, bahnt sich eine innige Freundschaft mit Folgen an, die aber nicht ganz so tragisch endet, wie man anfangs befürchtet. Und um beim französischen Film zu bleiben, ist Alain Guiraudie auf keinen Fall zu vergessen. Er kehrt mit „Miséricorde“ zurück ins Thriller- und Killergenre – vor elf Jahren brillierte er darin bereits mit „L’inconnu du lac“ – und zeigt einen Jérémie (Félix Kysyl), der nach langer Abwesenheit in sein Heimatdorf zurückkehrt und dort ungeahnte Liebessehnsuchtsgelüste bei fast allen Beteiligten auslöst. Ein süchtigmachender Film, den ich in Endlosschleife hätte betrachten können, zumal Landschaft, Dorfidylle und wunderbare Figuren – mit dabei Catherine Frot als Martine – mit beunruhigender Schönheit aufwarten.
Zu guter Letzt sei auch noch „Peaches Goes Bananas“ (Belgien/Frankreich) von Marie Losier erwähnt, in dem die Kanadierin Merrill Nisker nicht nur mit ihrer queeren Performancekunst und ihren provozierenden Genderfragen dargestellt ist, sondern sie sich in dem „intimen Dokumentarporträt“ (laut Katalog) auch zu ihrer persönlichen Geschichte und ihren Familienverhältnissen äußert.
Innerhalb der Viennale wurden zudem Filmpreise vergeben: Als bester österreichischer Film wurde „The Village Next to Paradise“ von Mo Harawe ausgezeichnet, in dem es um einen Mann geht, der nach dem Tod seiner Frau eine depressive Phase durchmacht und in der Community kollektivtherapeutische Hilfe erfährt. Der Spezialpreis der Jury ging an „Favoriten“ von Ruth Beckermann, die eine Lehrerin im „wahrscheinlich vielfältigsten Bezirk Wiens“ (laut Jurybegründung) begleitet. Den Viennale-Preis der STANDARD Leser:innen-Jury erhielt Lucie Prost für „Fario“, einem Familiendrama um Landwirtschaft, Bergwerk und Traumata. Matthew Rankin aus Kanada wurde mit dem Fipresci-Preis für „Une langue universelle“ geehrt: Eine „autobiographische Halluzination“, die „humanistische Poesie“ mit „trockenen Absurditäten“ und einer „Weltsprache des filmischen Geschichtenerzählens“ verquickt. Der Erste Bank Filmpreis wurde verliehen an Klára Tasovská für „Ještě nejsem, kým chci být“. Das ist eine Geschichte um eine Fotografin, die in ihren Bildern nach ihrem „wahren Selbst“ sucht.