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Leben mit HIV

Drüber reden ist doch heute
kein Problem mehr, oder?

Vieles hat sich seit Bekanntwerden von HIV/AIDS Anfang der 80er Jahre verändert. Und man darf zum Glück sagen: sehr zum Vorteil verändert. Allerdings gilt dies nicht für alle Aspekte rund um das Leben mit HIV. Das Thema der Offenlegung der HIV-Infektion anderen Menschen gegenüber ist ein besonders anschauliches Beispiel.

Mit den großartigen biomedizinischen Erfolgen, dank derer man heute von keiner tödlichen Erkrankung, sondern von einer chronischen Infektion reden darf, scheint sich der Umgang mit HIV zu normalisieren. Leider trügt dieser Anschein immer wieder. Denn auf gesellschaftlicher und psychosozialer Ebene sieht es oft anders aus. Ein Beispiel hierfür ist die Möglichkeit, offen über die eigene Infektion reden zu können. Wieviel Druck, Stress und/oder Angst HIV im Umgang mit anderen Menschen erzeugen kann, lässt sich sehr anschaulich mit der Frage verdeutlichen, wem gegenüber der HIV-Status offengelegt wird, bzw. überhaupt werden kann.

Denn dabei ist unbedingt zu bedenken – es geht nicht nur darum, den Status „einfach nicht anzusprechen“. Im Regelfall bedeutet es für die Menschen, aktiv Ressourcen zu investieren, um den Status auch nachhaltig geheim zu halten. Was zunächst nach einer situativen Kleinigkeit klingen mag, kann Lebensqualität und Beziehungsdynamiken über viele Jahre hinweg massiv beeinflussen. Anhand von zwei Studien soll hier aufgezeigt werden, dass es sich dabei nicht um eine theoretische Überlegung, sondern um die Erfahrungen vieler Menschen handelt.

Studiendaten geben klares Bild

Eine 2011 veröffentlichte Studie hatte in mehreren HIV-Schwerpunktpraxen sowie HIV-Ambulanzen in Wien und Graz Fragen zu diversen Aspekten der Lebensqualität im Leben mit HIV gestellt. Teilgenommen hatten 472 Menschen mit HIV, davon 16,1% Frauen und 83,9% Männer. Zwei Drittel der Befragten waren zwischen 31 und 50 Jahren alt. Das Ergebnis ergab ein klares Bild, wie schwierig es für viele Menschen ist, ihre Infektion anderen Personen gegenüber offen zu legen. Da leichte Unterschiede bei Frauen und Männern zu erkennen sind, wurde die Auswertung getrennt vorgenommen. So wussten bei den Frauen 64,3% der Mütter, 54,3% der Väter, 60,4% der Geschwister und 36,1% der eigenen Kinder über die Infektion Bescheid. Am häufigsten waren die Partner*innen mit 93,0% und am seltensten Arbeitskollege*innen mit 17,5% informiert. Bei den Männern war der HIV-Status gegenüber 47,5% der Mütter, 38,6% der Väter, 53,7% der Geschwister und 30,4% der Kinder offengelegt. Unter den Partner*innen wussten 94,6% und unter den Arbeitskollege*innen 22,9% über die Infektion Bescheid.

In einer anderen Studie, die 2021 publiziert wurde, nahmen 935 Menschen mit HIV aus Deutschland an einer Online-Befragung teil, davon 86% Männer, 13% Frauen und 1% trans* Personen. Das Durchschnittsalter lag bei 46 Jahren. Auch hier sprechen die Daten für sich: 87% der Teilnehmer*innen gaben an, sehr genau aufzupassen, wem sie von ihrem Leben mit HIV erzählen. 79% stimmten der Aussage zu, dass es riskant sei den Status offenzulegen. Und 13% sagten, sie würden überhaupt nie offen über ihre Infektion reden. Der Umgang mit der HIV-Infektion veränderte sich dabei über die Dauer des Lebens mit HIV. So konnten Menschen, die seit mehr als 20 Jahren mit HIV leben, signifikant offener darüber sprechen, als Menschen, bei denen die Erstdiagnose noch nicht so lange her war. So sprach z.B. bei den Personen, die im Laufe der vergangenen 2 Jahre ihre Diagnose erhalten hatten, fast jede 3. Person selten bis nie mit andere Menschen über HIV.

Entscheidende Jahre zwischen den Studien

Zwischen diesen beiden Studien liegen also genau 10 Jahre. Und durchaus entscheidende Jahre, denn in vielen HIV-Bereichen konnten genau in diesem Zeitraum enorme Erfolge erreicht werden, wie folgende drei Aspekte verdeutlichen.

So wurde das Präventionsportfolio um die HIV-PrEP als medikamentöse hocheffektive Schutzmethode erweitert. PrEP wurde erstmals 2012 in den USA zugelassen, Europa folgte 2016 und seit ein paar Jahren wird PrEP auch von der Weltgesundheitsbehörde klar empfohlen. Die HIV-PrEP hat sich somit als unverzichtbarer Bestandteil sowohl in den individuellen Optionen als auch in den globalen Bemühungen gegen die Epidemie etabliert.

Bei den HIV-Medikamenten wurden sogenannte Integraseinhibitoren der 2. Generation zugelassen. Sie haben mit ihrer Effektivität und Verträglichkeit die Möglichkeiten der Therapie verändert. So wurde mit diesen hochwirksamen Substanzen erstmals eine HIV-Therapie aus zwei, statt drei Wirkstoffen möglich. Gleichzeitig haben sich die STRs (single-tablet-regimen) von einer Option eindeutig zur Therapieform der Wahl gewandelt. Solche Veränderungen in der HIV-Therapie (z.B. besser verträglich, leichter in den Alltag integrierbar, oder auch weniger Wechselwirkungen) führten über die Jahre zu einem konstanten Anstieg der Menschen, die eine HIV-Therapie einnehmen. Schön sieht man dies in der Statistik der großen HIV-Schwerpunktambulanzen Österreichs: 2011 nahmen hier 86% der betreuten 3163 Patient*innen eine Therapie ein – im Jahr 2021 traf dies unter den 4486 Patient*innen auf 99.3% zu.

Diese Entwicklung geht Hand in Hand mit einem weiteren Erfolg. 2016 revolutionierte der Slogan U=U (undetectable equals untransmittable) die HIV-Welt. Der Slogan fasst zusammen, was im Grundkonzept schon lange bekannt war und dann mittels riesiger Datenmengen auch belegt werden konnte: Unter effektiver HIV-Therapie und einer Viruslast unter der Nachweisgrenze, sind sexuelle Übertragungen ausgeschlossen. Die Auswirkungen sind enorm. Die HIV-Therapie hat damit nicht nur positiven Effekt auf Gesundheit und Lebenserwartung. Sie ermöglicht Menschen mit HIV und ihren Sexualpartner*innen eine neue Sexualität ohne ständige Sorge einer Infektion. Außerdem hat dieser Effekt natürlich direkte Auswirkungen auf die Epidemiologie und ist zu Recht ein Kernpunkt im weltweiten Kampf gegen HIV. Und noch ein Aspekt ist keinesfalls zu unterschätzen: Der Slogan U=U kann auch unabhängig des sexuellen Lebens Sorgen nehmen, frei nach dem Motto „Wenn ich mit einer Person mit HIV sogar ohne Risiko Sex haben kann, na dann brauche ich ja im Alltag erst recht keine Angst haben.“ Die Studiendaten und der daraus entstandene Slogan U=U haben somit eindeutig Antidiskriminierungscharakter.

Veränderungen zeigen zu wenig Wirkung

Trotz dieser großartigen Veränderungen zeigen die beiden Studien in ihren Ergebnissen weniger Unterschiede, als man wünschen würde. Offen über den HIV-Status zu reden ist auch heute ein großes Thema und belastet das Alltagsleben vieler Menschen mit HIV. So passen z.B. die oben erwähnten Erfolge und das Umfrageergebnis, dass etwa 30% der Menschen mit erst aktuell diagnostizierter Infektion nicht offen darüber reden können, gefühlt nicht zusammen. Denn man könnte ja meinen, dass sich der Umgang mit HIV inzwischen geändert hätte. Auch 10 Jahre nach der ersten Studie profitieren viele Menschen auf emotionaler Ebene nicht oder viel zu wenig von den erreichten Erfolgen.

Der dadurch entstehende Auftrag dürfte klar sein: Es gilt, die Erfolge und deren Auswirkungen (z.B. gute Gesundheitsprognose, hohe Lebenserwartung, U=U!) von der Theorie in die Lebensrealität zu bringen. Damit Menschen mit HIV zukünftig auch wirklich selbst entscheiden können, mit wem sie offen über dieses Thema reden – und nicht durch Diskriminierung, bzw. nachvollziehbarer Angst davor, in ein aktives Verheimlichen und potenzielles Doppelleben gedrängt werden.

Von Birgit Leichsenring

Mikrobiologin und biomed. Wissenschaftskommunikatorin (www.med-info.at)