Mein Zwangsouting in einer ländlichen Schule
Mein Zwangsouting mitten in einem Kuhdorf deckt die unhinterfragte Heteronormativität und die stummen queeren Realitäten in Schulen auf. Es ist Zeit für das laute Streuen von Glitzer und Regenbogen, um die ungleiche Behandlung und Diskriminierung von queeren Menschen in Schulen anzuprangern und für eine inklusive Lernumgebung zu kämpfen.
Eine atemberaubende Landschaft zieht an mir vorbei – der Zug, in dem ich sitze, spaltet den tiefblauen See in zwei. Wie mit Puderzucker bestäubte Bergspitzen ragen daneben in die Höhe. Ruckartig schiebt sich eine weisse Wand zwischen mich und das prachtvolle Panorama. Das erste Einfamilienhaus. Mein Magen krampft sich unweigerlich zusammen. Da ist es also, das Dorf, in dem ich die Stellvertretung als Lehrperson angenommen habe. Toll. Eigentlich hätte ich spätestens in diesem Moment realisieren sollen, dass ich mit meiner regenbogenfarbenen Aura nicht in das Dorf passe, in dem wohl mehr Kühe als Einwohnende leben. Aber ich wollte mich ohne Vorurteile der Herausforderung mitten in der Zentralschweiz stellen.
Schwarz-Weiss gefleckt
So startete ich also mit den ersten Lektionen in Fächern, die ich nicht studiert hatte und mich noch weniger interessierten. Fünf Lektionen, fünf Klassen. Es fühlte sich an, als wäre ich Teil einer effizienzorientierten Fabrikproduktion, in der 90 Lernende wie Fließbandware an mir vorbeizogen. Alles, worin ich als Klassenlehrperson so richtig gut war – die nahe Beziehungsarbeit und das Eingehen auf individuelle Bedürfnisse – waren in einem solchen Setting Wunschdenken. Zusammen mit der Fachferne und dem nichtexistierenden Austausch mit anderen Lehrpersonen war ich also maximal unsicher. Doch meine Unsicherheit wurde vor allem durch die Lernatmosphäre im Unterricht verstärkt. Die fünf Klassen waren unterschiedlich, geprägt von einer hohen Diversität mit verschiedene Erstsprachen, Stärken, Niveaus und Hautfarben. Was sich jedoch durch alle fünf Klassen und später auch durch das ganze Schulhaus inklusive Schulleitung und Kollegium zog, war das krampfhafte Festhalten an der Heteronormativität. Es schien, als hätte sich das Muster der schwarz-weissen Kühe auf die Denkweise der Dorfbewohner*innen übertragen.
Wir existieren
Es gibt auch andere queere Menschen in einem Kuhdorf wie diesem. Sie sind nur meist unsichtbar – oder zu sichtbar, weil alle über die eine lesbische Jugendliche sprechen. Auch ich hielt meine Queerness in diesem Dorf verborgen, kleidete mich bewusst langweilig (heteronormativ halt) und erwähnte meine Frau mit keinem Wort (das würden Heteros nie machen). Zahlen zeigen, dass etwa 13 Prozent der Jugendlichen queer sind (ich bin überzeugt, dass es deutlich mehr sind!). Ja, auch auf dem Land. Statistisch gesehen befinden sich ein bis zwei queere Schüler*innen in einer Schulklasse. Obwohl ich kein Fan von statistischen Darstellungen bin, weil sie Menschen auf Zahlen reduzieren, belegen sie die Existenz queerer Jugendlicher. Wären alle Lehrpersonen diesbezüglich so anerkennend wie die trockenen Tabellen, könnte ich diesen Text mit einem anderen Inhalt füllen. Im Gegensatz zur distanzierten Objektivität der Statistiken positionierten sich die Lernenden (vor allem die richtigen Macho-Schüler) in den fünf Klassen (ab)wertend. Schonungslos nahm ich wahr, wie „gay“ lauthals als Schimpfwort verwendet, abwertende Blicke als Reaktion auf queere Darstellungen ausgetauscht und Witze auf Kosten von Schwulen und trans Personen gemacht wurden (bei meiner kritischen Reaktion meinten sie, dies sei keine Homophobie, weil es ja lustig gemeint ist. What?). Wenn es tatsächlich möglich wäre, dass Jugendliche allein durch die Behandlung von Queerness im Unterricht schwul oder lesbisch würden, wären meine Schulklassen schon längst Teil der Community. Die Realität sieht anders aus: Wir queere Menschen inhalieren heterokonforme Atmosphären, in denen das negativ konnotierte „gay“ normalisiert ist, so sehr, dass wir diejenigen sind, die beinahe straight werden.
Mein Hilferuf
In dieser Atmosphäre kam es in der einen Klasse zu einem Vorfall. Aufgrund von subtil anhaltenden Provokationen (wieder von den Machos) fühlte ich mich in meiner Rolle als Lehrperson unwohl. Die Art und Weise, wie mich die Jugendlichen herausforderten, deutete darauf hin, dass sie über meine Queerness Bescheid wussten (#Insta?). Nach diesem Vorfall war ich am Ende, Tränen strömten über meine Wangen. Ich entschloss, bei der Schulleitung um Hilfe zu bitten. Intuitiv verfasste ich eine Mail, um mit ihr einen Gesprächstermin auszumachen. Ich erwähnte, dass ich ihr den Vorfall nicht per Mail schildern wollte, drückte jedoch aus, dass ich den Eindruck hatte, die Provokationen hätten mit meiner Queerness zu tun. Einige lange Tage passierte nichts. Schlussendlich erhielt ich am Abend vor der nächsten Stellvertretung endlich eine Antwort der Schulleitung – der Klassenlehrer der betreffenden Klasse habe mit den Lernenden gesprochen, sie hätten weder etwas von den Schikanierungen noch von meiner Situation gewusst. Wow.
Freeze
Erst war ich sprachlos. Gelähmt. Schlussendlich wurde meine Vorahnung mit einer weiteren knappen Mail bestätigt – der Klassenlehrer hat der Klasse mitgeteilt, dass ich queer bin. Einfach so. Meine Hände waren von einem Moment auf den anderen eiskalt und schweißnass zugleich. Warum ich die Stellvertretung spätestens dann nicht an den Nagel gehängt hatte, ist mir bis heute ein Rätsel. Mit leerem Magen und bebender Stimme kreuzte ich also am darauffolgenden Tag in der Schule auf und all meine schlaflosen Albträume wurden real: Wie ein Lauffeuer hat sich die aufregende Neuigkeit durch die gesamte Schule verbreitet. Alle starrten mich an – nicht nur im Unterricht, auch auf dem Korridor und auf dem Pausenplatz. Nur der Klassenlehrer und die Schulleitung wagten es nicht, zu starren, im Gegenteil. Sie vermieden den Kontakt zu mir, in Realität und per Mail (wie professionell und empathisch). Dazu kamen abwertende Sprüche und grenzüberschreitende Fragen, die mich zusätzlich exponierten.
Stille Schallwellen
Mit der Zeit wurde mein Freeze-Zustand von Wut abgelöst. Gut so. Noch heute bin ich wütend darüber, wie unsensibel und übergriffig die Schulleitung und der Klassenlehrer reagiert haben. Anstelle mit mir das Gespräch zu suchen, obwohl ich explizit darum gebeten hatte, wurde mein Hilferuf durch „gutgemeintes“ Handeln (ja, so haben sie es gerechtfertigt) in eine traumatisierende Erfahrung umgewälzt. Noch heute bin ich wütend darüber, dass heterosexuelle Lehrpersonen sich mit Queerness auseinandersetzen können, wenn sie möchten und nicht, weil sie es strukturell im Rahmen von Weiterbildungen müssen. In meinem Fall blieb es von Seiten der involvierten Personen bei einer feigen Gleichgültigkeit, denn die Reaktion auf meine Nachricht, in der ich die herausfordernden diskriminierenden Konsequenzen ihres Zwangsoutings schilderte, blieb auch aus. Schweigen. Furchtbar lautes Schweigen (schon zum zweiten Mal).
Für gehörte Sichtbarkeit
Als stellvertretende Lehrperson konnte ich die Schule verlassen. Doch was ist mit all den queeren Jugendlichen, die in den stummen statistischen Tabellen existieren? Sollte sich eine Schulleitung nicht für die Lernatmosphäre ihrer Schule interessieren und sich für jene einsetzen, die keine Stimme haben? Noch heute frage ich mich, ob ich mich von Anfang an hätte outen sollen – wäre die Erfahrung weniger ausgeartet, hätte ich von der ersten Lektion an aktiv den regenbogenfarbenen Glitzer verteilt? Ich weiss es nicht. Schlussendlich bin ich jedoch der Meinung, dass auch ein Nicht-Outen in Ordnung ist. Es ist meine Entscheidung, wem und wann ich von meiner Queerness erzähle, und diese Entscheidung sollte keiner Person abgenommen werden. Doch solange schwarz-weiss gefleckte Denkmuster als die Wahrheit betrachtet werden, besteht das Machtgefälle zwischen der Norm und den Anderen. Solange Schulleitungen und andere Fachpersonen nicht auf Queerness und Diversität geschult werden, wird die strukturelle Diskriminierung aufrechterhalten. Solange Schulen nicht Zeit und Energie in eine empathische und diversitätssensible Lernumgebung investieren, kommt es zu psychischen Belastungen und Erkrankungen. Ja, das bedeutet für Schulen einen ressourcenreichen Aufwand – Zeit, Geduld, Rückschläge, hitzige Auseinandersetzungen und finanzielle Kosten – alles, womit queere Menschen kämpfen müssen (im Alltag, in der Schule, in der Arbeit). Wann, frage ich mich, löst sich dieses Ungleichgewicht endlich auf?