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Queerfeindlichkeit in der Familie

Müssen wir uns vor konservativen Verwandten outen?

Auch viele Jahre nach meinem Coming-out und meiner Entwicklung hin zu einem queeren Aktivisten fällt es mir immer noch schwer, mich vor homophoben Familienmitgliedern zu outen. Anhand eigener Erfahrungen sowie Fallbeispielen von anderen Personen möchte ich in diesem Artikel verdeutlichen, dass es kein allgemeingültiges Richtig oder Falsch gibt, wenn es um das Thema Coming-out in konservativen Familien geht. Letztlich liegt es an der betroffenen Person, ihr Wohlbefinden und ihre Bedürfnisse vorrangig zu behandeln.

Zwischen Mut und Zurückhaltung: Ein Einblick in meine Biografie

Vor vielen Verwandten habe ich mich noch nicht geoutet. Am meisten belastet mich jedoch, dass ich mich gegenüber meiner slowakischen Großmutter nicht öffnen kann, obwohl wir regelmäßig Kontakt haben. Als ich dies einem Freund erzählte, meinte er: „Du nimmst aber deiner Oma auch die Chance, sich selbst weiterzuentwickeln.“ Doch dann stellte ich mir die Frage: Sollte ich mich wirklich diesem emotionalen Stress aussetzen? Bin ich tatsächlich dazu berufen, an der persönlichen Entwicklung homophober Menschen mitzuwirken?

Meine Oma wuchs in einem kleinen Dorf auf und daher verstehe ich durchaus, warum sie so „traditionsbewusst“ denkt. Doch trotz dieses Verständnisses fällt es mir schwer, ihre konservativen Einstellungen zu akzeptieren. Besonders betroffen fühle ich mich dann, wenn wir uns über Politik unterhalten und meine Großmutter die Meinung von gewissen queerphoben Politiker*innen teilt. Diese Politiker*innen treten offen gegen Menschen wie mich auf und diffamieren LGBTIQ*-Personen als moralisch verwerflich und Propagandisten. In solchen Gesprächen fange ich aufgrund eigener Betroffenheit nicht selten einen Streit an, aber ich oute mich dabei nicht als betroffener schwuler Mann. Wie fühle ich mich dabei? Am besten lässt es sich wohl als Gefangensein zwischen Feigheit und Mut beschreiben. Denn es widerspricht völlig meinen Prinzipien, meine wahre Identität verbergen zu müssen, und es belastet mich, wenn ich nicht zu mir selbst stehen kann. Es ist zudem für mich von großer Bedeutung, politisch aktiv zu sein und meine queere Identität offen leben zu können. Selbst in konservativen Gegenden wie den abgelegenen Regionen der Slowakei möchte ich offen über queere Themen sprechen können, ohne mich verstecken zu müssen. Für mich persönlich ist das sogar ein Akt eines alltäglichen queeren Aktivismus. Doch leider gelingt es mir nicht, diese Einstellung bei meinen eigenen Verwandten umzusetzen.

Nichtsdestotrotz stehe ich auch unter Abwägung der genannten Gründe dazu, mich vor meiner Oma nicht outen zu wollen. Es wäre zwar ein mutiger Schritt, und möglicherweise würde meine Großmutter über ihre eigene Queerphobie nachdenken, jedoch überwiegt meine Angst vor ihren Reaktionen. Deshalb habe ich beschlossen, mein eigenes Wohlbefinden zu priorisieren und stehe daher bewusst zu meiner Entscheidung, mich nicht zu outen. Das ist jedoch nur mein persönlicher Zugang zu diesem Thema.

Weitere Fallbeispiele zu dem Umgang mit konservativen Familienmitgliedern

Coming-outs sind schließlich sehr persönliche und individuelle Entscheidungen. Es gibt keine einheitliche Herangehensweise, die für alle passt. Da ich ein Interesse daran hatte, verschiedene Erfahrungen von queeren Menschen zu erkunden und nicht nur meine eigenen Ansichten als Maßstab zu nehmen, habe ich über einen Social Media-Aufruf meine Bekannten gebeten, ihre Coming-out-Erfahrungen mit mir für diesen Artikel zu teilen. Vier Berichte werden nun unter Verwendung fiktiver Namen präsentiert.

Florian

„Ich habe mich bewusst nicht geoutet, weil ich weiß, dass das Verständnis nicht vorhanden ist und ich keine Diskussion deswegen anfangen möchte.“ – Florian über sein Non-Coming-out

Florian teilt meine Einstellung auf das vorliegende Thema. Er geht zwar im Leben sowie auf Social Media offen und selbstbewusst mit seiner sexuellen Orientierung um, aber gleichzeitig will er sich vor konservativ denkenden Verwandten nicht outen, da er weiß, dass dies nicht zielführend wäre.

Jan

„Für mich war es befreiend, mich vor meinem homophoben Vater zu outen.“ – Jan über sein Outing

Im Gegensatz zu mir und Florian entschied sich Jan zu einem bewussten Coming-out vor seinem Vater sowie weiteren Verwandten. Dieser Schritt sei ihm nicht leicht gefallen, doch es war für ihn erleichternd, sich nicht mehr verstecken zu müssen. Für ihn war das Coming-out, auch vor konservativen Verwandten, die richtige Entscheidung.

Paul

„If you want me in your life you have to want me for who I am“ – Paul über seine Einstellung zu konservativen Verwandten

Paul wurde die Entscheidung, sich zu outen, schon von anderen Familienmitgliedern weggenommen. Er wurden nämlich von seiner Tante bei seinem Opa fremdgeoutet. Paul hatte vor dessen Reaktion Angst, doch überraschenderweise zeigte sich sein Opa ihm gegenüber recht offen und tolerant. Pauls Geschichte veranschaulicht, dass selbst konservativ denkende Menschen auch andere Seiten zeigen könnten.

Laura

„Ich fühle mich so freier und verstecke mich sicher nicht mehr, auch wenn’s manchmal weh tut.“ – Laura über das Coming-out vor ihren Eltern

Laura stammt aus einer traditionell geprägten Bergregion Österreichs. Sie ist daher nicht vor allen Verwandten geoutet und ihre Tanten und Onkeln ignorieren bewusst die Tatsache, dass sie eine Partnerin hat. Selbst ihre Eltern würden zu ihrer Hochzeit nicht kommen. Vor ihnen hat sie sich zwar schon längst geoutet, jedoch hätte sie sich im Nachhinein vor dem Outing noch ein unterstützendes Umfeld aufgebaut und einen besseren Zeitpunkt abgewartet.

Outen oder nicht outen: Was nun?

Mit meinem Text will ich weder ein Coming-out vor konservativen Verwandten empfehlen noch davor ausdrücklich abraten. Obwohl mein Vergleich von mehreren Fallgeschichten meilenweit entfernt von einer quantitativ abgesicherten Aussage ist, glaube ich, dass die Botschaft klar ist: Es gibt kein klares Ja oder Nein auf die Frage, ob man sich vor konservativen Familienmitgliedern outen sollte. Dennoch möchte ich allen Menschen ans Herz legen, einen Weg zu finden, der es der betroffenen Person ermöglicht, sich am sichersten und wohlsten zu fühlen. Wie die dargestellten Fallgeschichten illustrieren, gibt es hierfür mehrere Varianten.

Es gibt auch keinen festgelegten „richtigen Zeitpunkt“ für ein Coming-out. Jeder Mensch hat ein eigenes Tempo, und es ist wichtig, sich selbst genug Zeit zu geben, um sich wohlzufühlen und die Entscheidung zu treffen, die am besten zu einem passt. Jede Person sollte selbst entscheiden, ob, wann und wie sie sich outen möchte, und dabei ihre eigene Sicherheit, ihr Wohlbefinden sowie ihre Bedürfnisse im Auge behalten.

Von Michael Stromenger

Sozialarbeiter in Wien