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Kultur

Queerer Sex als Befreiung aus der Spießigkeit

Berlinale 2024

Wenn dieser Vorabblick auf die Berlinale 2024 im März-Heft der Lambda erscheint, ist das Festival, das vom 15. bis 25. Februar stattfindet, schon gelaufen. Trotzdem kann ein solcher Blick nicht schaden, denn bis die Sommerausgabe der Lambda erscheint, in der:die Gewinner:innen der Berlinale einschließlich TEDDYs besprochen werden, geht noch einige Zeit ins schöne österreichische Land. Einige der hier zu erwähnenden queeren Filme mögen zudem in der Zwischenzeit auch bei anderen Festivals und vielleicht auch bei der einen oder anderen Kinovorführung von Interesse sein.

All shall be well
All shall be well

Die Berlinale-Pressestelle wirbt damit, dass allein im Panorama, das von jeher die meisten queeren Beiträge der Berlinale im Programm hat, 31 Titel aus 36 Ländern, davon 25 Weltpremieren, gezeigt werden und „Sex als Befreiung aus der Heteronormativität“ gefeiert wird. Mit einschlägigen Filmthemen dabei sind in diesem Jahr unter anderem Levan Akin („Als wir tanzten“, 2019), Markus Stein („Unter Männern – Schwul in der DDR“, 2011/2012), Philipp Fussenegger („Henry“, 2015), Judy Landkammer („I am the Tigress“, 2021, als Filmeditorin), Bruce LaBruce („Gerontophilia“, 2014), Dag Johan Haugerud („Barn“, 2019), Ray Yeung („Suk Suk“, 2019), Antonella Sudasassi Furniss („The Awakening of the Ants“, 2019).

Teaches of Peaches
Teaches of Peaches

Eröffnet wird das Programm mit „Crossing“ (Schweden, Dänemark, Frankreich, Türkei, Georgien) von Levan Akin (sein vierter Spielfilm), der laut Berlinale-Programm von „queerer Fürsorge und Solidarität“ handelt, wenn eine Lehrerin in Ruhestand sich zusammen mit einer Anwältin für Transrechte nach und durch Istanbul aufmacht, um die vor langer Zeit verschwundene Nichte zu suchen. Zwei dokumentarische Portraits sind „Baldiga – Entsichertes Herz“ (D) von Markus Stein über den 1993 an Aids verstorbenen Fotografen Jürgen Baldiga und „Teaches of Peaches“ (D) von Philipp Fussenegger und Judy Landkammer über die queerfeministische Musikerin und Performerin Peaches aus Kanada. In „Baldiga“ wird per Tagebucheinträgen und Fotografien auf die schwul-lesbische Kultur West-Berlins der 1980er und frühen 1990er Jahre geblickt sowie gleichzeitig eine persönliche Chronik der Aids-Epidemie gewagt. In dem Beitrag über Peaches wird die Künstlerin in Interviews, Archivmaterial und Tourneeaufnahmen als queere Ikone gefeiert.

Crossing
Crossing

„Queere Sexualität als Befreiung der Klein- und Großbürger*innen“ indem „gesellschaftliche Standards lustvoll auseinandergenommen“ werden, ist laut Berlinale-Programm auch in Bruce LaBruces „The Visitor“ (UK) und in Dag Johan Haugeruds „Sex“ (Norwegen) Thema. Bei „Sex“ hinterfragen unter anderem zwei Schornsteinfegerkollegen ihre Vorstellungen von Sexualität und Geschlechterrollen und kommen zu für sie ganz neue Erkenntnisse. In „The Visitor“ – Neuinterpretation von Pasolinis „Teorema“ (1968) – kommt es in einem gutbürgerlichen englischen Haushalt zu verführerischen Szenen mit einem an der Themse angespülten Geflüchteten.

Und dann gibt es noch viel mehr, auch zu lesbischem Leben, wie zum Beispiel „All shall be well“ (Hongkong, China) von Ray Yeung. Eine Frau soll aus ihrer Wohnung raus, als ihre Lebensgefährtin stirbt. Die Community steht ihr zur Seite, als sie sich entschlossen zur Wehr setzt. Oder „Memorias de un cuerpo que arde“ (Costa Rica, Spanien) von Antonella Sudasassi Furniss, drei ältere Frauen, die sich mit ihren Körpern auseinandersetzen, die zeitlebens Repressalien und Tabus ausgesetzt waren, entdecken sich, ihre Freiheit und ihre Weiblichkeit(en) miteinander neu.

Von Anette Stührmann

Freie Journalistin und Autorin