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Liebesschmerz und Trennungsglück

Ginge ich lediglich auf die schwulen Charaktere François und Sven ein, würde ich der Intention des Romans nicht gerecht werden. Trotzdem, in dem großen Personalaufgebot von „23 Leben“ von C. P. Haller spielen die beiden tragende Rollen. So ist Sven in den trunk- und herrschsüchtigen – noch dazu heterosexuellen – Mike verliebt, der von Minderwertigkeitskomplexen geplagt ist und versucht, seine Freundin, Franziska, unter Kontrolle zu halten. Er drängt sie, auf ihre berufliche Karriere zu verzichten. Franziska ist unglücklich über die Situation, will Mike aber nicht verlieren und sieht sich aufgrund seiner erpresserischen Methoden in solidarischer Verbindung zu einer wegen Totschlags an ihrem gewalttätigen Ehemann zu Unrecht verurteilten Frau. 

François, der zweite schwule Mann in „23 Leben“ gibt sich bisweilen mit sexuellen Abenteuern zufrieden, ist jedoch an einer verbindlichen Beziehung zu Sven interessiert, traut sich aber nicht, ihm seine Liebe zu gestehen. Mehr als das Schwulsein allein verbindet Sven und François, dass sie den von ihnen Angehimmelten ihre wahren Wünsche verschweigen. Überhaupt zieht sich Schweigsamkeit und Kommunikationsunfähigkeit durch den Roman. 

So äußerst Franziska ihre Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung Aylas weder gegenüber ihren Vorgesetzten noch vor Gericht und auch nicht gegenüber der Verurteilten selbst. Als sich Ayla auf dem Weg ins Gefängnis von ihrem Kopftuch befreit, geht Franziska in Bezug auf ihr eigenes Leben und ihre emotionale Abhängigkeit immerhin ein Licht auf: „Und in diesem Moment wurde es Franziska klar. Drang das Erkennen in ihr Bewusstsein. Auch sie selbst trug ein Kopftuch. Ein Unsichtbares. Und sie hatte das Gefühl, dass sie keine Wahl hatte, es zu tragen oder nicht. Denn wenn sie sich für sich entscheiden würde, für sich und ihren Weg, dann würde Mike sie verlassen.“ Trotzdem besteht sie nicht auf ein klärendes Gespräch mit Mike, obwohl sie unbedingt mit ihm zusammenbleiben will. Ähnlich geht es Jonas in seiner Ehe mit Steffi, jahrelang ist er der Aussprache ausgewichen. Gleichzeitig hält Nochehefrau Steffi den verliebten Werner seit 15 Jahren hin, nutzt ihn als Trostpflaster, wenn es ihr schlecht geht. Werner auf der anderen Seite wartet einfach ab und stellt sein Leben auf Pause, und damit ist er in diesem Roman nicht allein. 

Und so entfaltet sich der Fächer aus vielen Figuren und Schicksalen, Höhen und Tiefen des Lebens, mit Liebe, Hass, Eifersucht, Krankheit, Sterben und Tod vor den Augen und in den Köpfen der Leserschaft. Jede Figur – bis auf zwei Charaktere, die jeweils nur einmal vorkommen – bekommt dabei sowohl im ersten Teil des Romans als auch im zweiten ein eigenes Kapitel. Teil 1 beginnt mit Andreij und endet mit Agnes, Teil 2 startet mit Agnes und schließt mit Andreij. Die Filmrolle, die das Leben ist, wird sozusagen abgerollt und im zweiten Teil wieder aufgerollt.  Dass es in all den miteinander verwobenen Geschichten immer um eine Figur und ihr Umfeld geht, ist sowohl Stärke als auch Schwäche des Romans. So stehen zwar alle Figuren meistens zweimal im Mittelpunkt des Geschehens, andererseits kommen alle Figuren abwechselnd und wiederholt ins Spiel, so dass die Fülle zu einem streckenweise unübersichtlichen Spektakel wird.

Bei der Leser*innenschaft kommt der Roman  jedenfalls gut an. Es sei „seit Jahren das beste Buch“, heißt es, und die Stories seien „wie eine Serie“, die „süchtig“ mache, man könne „jede Emotion fühlen“. Die Autorin selbst – 41 Jahre alt, gelernte Erzieherin und Ärztin, lebt mit ihrer Frau in München – garantiert, dass man nach der Lektüre das eigene Leben „Revue passieren“ lasse und man „in Zukunft achtsamer agieren“ werde: „Denn dieses Buch zeigt die unausweichliche Wahrheit auf, dass alle Leben miteinander verwoben und wir für unsere Handlungen verantwortlich sind, genauso wie für die Freude und das Leid der anderen …“.

Von Anette Stührmann

Freie Journalistin und Autorin