Die Filme der Berlinale 2023
Wenn dieser Text erscheint, liegt das Filmspektakel in Berlin bereits mehr als ein viertel Jahr zurück. Da die Berlinale mit ihren Events und Auszeichnungen jedoch auch Einfluss auf andere Festivals hat, schadet es nicht, einen Rückblick auf die glücklichen GewinnerInnen und persönliche Highlights zu wagen, zumal der hier integrierte Teddy Award als „der bedeutendste queere Filmpreis der Welt“ gilt, der mit seinen Auszeichnungen „einen Beitrag für mehr Toleranz, Akzeptanz, Solidarität und Gleichstellung in der Gesellschaft“ (laut www.berlinale.de) leisten soll. So oder so, interessant ist die Rückschau allemal, zumal es die erste Berlinale seit Beginn der Corona-Pandemie war, die wieder mehr oder weniger ohne Zutrittsbeschränkungen und in vollbesetzten Kinosälen stattfand. Die einzige Einschränkung der Barrierefreiheit bestand darin, dass es in diesem Jahr endgültig keinen Vorortverkauf bzw. Abendkasse mehr gab, also einen faktischen Ausschluss von Menschen ohne Möglichkeit eines Onlinezugangs. Nicht der einzige Ausschluss: die Berlinale hat sich zwar immer gerühmt, ein demokratisches Publikumsfestival zu sein, doch die Ticketpreise sind trotzdem für manche unerschwinglich. Man gehörte schon immer zu den privilegierten Bildungsschichten, wenn man das Festival zehn Tage lang besuchen konnte.
Es war schön, wieder vor Ort in echter Präsenz neben meist freundlichen, witzigen, glücklichen, manchmal aber auch vor unhöflichen, hustenden und schubsenden MitcineastInnen zu sitzen und sich als Teil einer filmbegeisterten Community zu sehen, zumal der Zugang zum Berlinale Palast am Marlene-Dietrich-Platz eher entspannter als in Vorcoronajahren abging. Das Personal war höflich geschult und gelassen, wenn es darum ging, auch ja jeden einzelnen QR-Code zu scannen. Und es war schön.
Nun zu den Preisverleihungen und vor allem zuerst einmal zu den Teddy Awards. Als besten Spielfilm bewertete die Teddy-Jury „All the colours of the world are between black and white“ von Babatunde Apalowo, eine einfühlsame Geschichte aus einer homophoben Community in Nigeria, in der zwei Männer sich trotz aller Verbote näherkommen und ihre Liebe entdecken – und das alles vor dem Hintergrund der 16-Millionen-Einwohnerstadt Lagos, die größte Stadt Nigerias und die zweitgrößte Afrikas. Mein Fazit: Wunderschön, politisch beeindruckend und hoffentlich auch bald in österreichischen Kinos zu sehen. Mit dem Teddy für den besten Dokumentar-/Essayfilm wurde „Orlando, ma biographie politique“ („Orlando, My Political Biography“) von Paul B. Preciado ausgezeichnet und erhielt zudem den Preis der Leser*innenjury des Tagesspiegel, den Spezialpreis der Encounters-Jury sowie eine Lobende Erwähnung im Rahmen des Berlinale Dokumentarfilmpreises. Der französische Beitrag wertet Virginia Woolfs Romanfigur neu aus und macht sich laut Berlinale-Katalog auf „eine ungewöhnliche Wahrheitssuche“, die als „Referenz für alle nicht-binären Körper“ gelten soll. Bester Kurzfilm wurde „Marungka tjalatjunu“ („Dipped in Black“) von Matthew Thorne und Derik Lynch, der eine Reise in die alte australische Heimat thematisiert, die spirituelle Heilung verspricht. Der Jury Award ging an Vicky Knight für ihre Performance in „Silver Haze“ von Sacha Polak. Der niederländisch-britische Beitrag spielt in London, wo eine Krankenschwester sich in ihre Patientin verliebt und sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzt. Außerdem gab es einen Special Teddy Award für Andriy Khalpakhchi und Bohdan Zhuk, Begründer des Sunny Bunny Awards, dem queeren Filmpreis des Molodist Festivals in Kiew. In Bezug auf queeres Sujet möchte ich zudem „Knochen und Namen“ von Fabian Stumm erwähnen, in dem er selbst auch eine der Hauptrollen spielt. Der Perspektive-Deutsches-Kino-Beitrag, der den Beziehungswendepunkt eines Schauspieler-Schriftsteller-Paares analysiert, gewann den Heiner-Carow-Preis, der nach dem Regisseur von „Coming Out“ (1989) benannt ist.

Im Folgenden wird es nun auch um Auszeichnungen gehen, die nicht unbedingt an queere Filme im engeren Sinne gingen, aber doch Beiträge würdigten, die eine herausragende politische Message haben, beziehungsweise das mutige Engagement ihrer ProtagonistInnen ehren. So wurde die deutsch-französische Doku „Sieben Winter in Teheran“ von Steffi Niederzoll mit dem Friedensfilmpreis sowie dem Kompass-Perspektive-Preis bedacht, um an gängiges Unrecht im Iran zu erinnern. In diesem Film geht es dabei konkret um eine Studentin, die nach sieben Jahren Gefängnis gehängt wird. Sie hatte sich geweigert, ihre Aussage gegen ihren Vergewaltiger zurückzunehmen. Ebenso wurde „Das Lehrerzimmer“ von Ilker Catak hervorgehoben. Der deutsche Spielfilm ist Preisträger von Label Europa Cinemas und CICAE Art Cinema Award. Darin versucht eine Lehrerin, Mobbingaktionen und Intrigen an ihrer Schule entgegenzuwirken und verfängt sich dabei im Netz des Systems.
Um zu den Bärenverleihungen überzuleiten, empfiehlt sich die Erwähnung von „20.000 especies de abejas“ („20.000 Species of Bees“) von Estibaliz Urresola Solaguren, der neben dem Silbernen Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle an Sofia Otero noch mit dem Preis der Leserjury der Berliner Morgenpost und dem Gilde Filmpreis ausgezeichnet wurde. In dem spanischen Beitrag geht es um ein Kind im Landurlaub, das mit den Identitätszuschreibungen seiner Umgebung nicht einverstanden ist und als Forscher*in lebensverändernde Entdeckungen in der Bienenzucht macht.
Es gab bei den Wettbewerbspreisen, die von der internationalen Jury unter Leitung von Kristen Stewart verliehen wurden, noch andere tolle Beiträge: Der Goldene Bär ging an „Sur l’Adamant“ von Nicolas Philibert – ein Dokumentarfilm, aber fast täuschend spielfilmähnlich, wenn die BesucherInnen einer Tagesklinik in Paris versuchen, ihre psychischen Probleme zu bewältigen. Den Silbernen Bär Großer Preis der Jury erhielt „Roter Himmel“ von Christian Petzold – eine unterhaltsame leise Geschichte, die sich in einer abgelegenen Ferienvilla mit Psychogrammen zwischen vier jungen Leuten abspielt, und die am Rande auch ein bisschen queer ist, aber einen unsicheren Heterosexuellen im Hauptvisier hat, der alles tut, um der hübschen Protagonistin nicht zu nah zu kommen: „Die Arbeit lässt es nicht zu.“ Der Silberne Bär Preis der Jury wurde an „Mal Viver“ von Joao Canijo verliehen: Fünf Frauen betreiben zusammen ein altes Hotel und geraten aufgrund ihrer Vorgeschichte(n) in scheinbar unlösbare Probleme. Der Silberne Bär für die Beste Regie ehrte Philippe Garrel für „Le grand chariot“: eine Puppenspielerfamilie, hin- und hergerissen zwischen Tradition und Selbstbefreiung. Den Silbernen Bär für die Beste Schauspielerische Leistung in einer Nebenrolle erhielt Thea Ehre für ihr Schauspiel in „Bis ans Ende der Nacht“ von Christoph Hochhäusler: Verdeckter schwuler Ermittler im Drogenmilieu – und auch die Suche nach der wahren Liebe ist mit im Spiel. Den Silbernen Bär für das Beste Drehbuch nahm Angela Schanelec für „Music“, in dem sie selbst auch Regie führte, entgegen: Vom Ödipuskomplex auf Reise ins heutige Selbst; „blutig, barock, elliptisch in Perfektion“ (aus dem Katalog). Den Silbernen Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung hat sich Hélène Louvart für die Kamera in „Disco Boy“ von Giacomo Abbruzzese verdient: Franz Rogowski spielt den durch Europa driftenden Aleksei, der schließlich in der Fremdenlegion sein Glück sucht. Besonnen, nachdenklich, reflektierend, menschlich – und neuerdings auch ein bisschen queer; hier zwar nur in Ansätzen und Andeutungen, aber 2021 in „Große Freiheit“ von Sebastian Meise ganz explizit.