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Schwule Liebesge­schichte

„Lebe niemals das Leben eines anderen, sondern nur dein Leben“. Das ist ein zentraler Satz in diesem Buch. Die Aufforderung, sein eigenes Leben zu leben, richtet sich an den 16-jährigen Luca, die Hauptfigur in diesem Roman. Doch Luca fällt es schwer, zu sich und zu seinen Gefühlen zu stehen. Er stammt aus ärmlichen, bäuerlichen Verhältnissen in Italien. Um Geld zu verdienen, muss er über den Sommer in einer deutschen Stadt in einem Eissalon arbeiten, obwohl er nur wenig Deutsch spricht. Dort lernt er den gleichaltrigen Gymnasiasten Hans kennen. Hans wird von den anderen im Eissalon „bel biondo“ genannt. Luca tut sich mit seinen Gefühlen zu Hans schwer. Der Roman spielt in den 1950er Jahren, als gleichgeschlechtliche Liebe verboten ist. Luca hat Angst, als „frocio“ oder „ricchione“ abgestempelt zu werden. So werden in Italien schwule Männer beschimpft. Sie galten damals als ekelhafte, kranke, tuntige und bemitleidenswerte Kreaturen. Luca bekommt schon als kleines Kind mit, dass man sich vor einem „frocio“ in Acht nehmen soll. Luca hat das Gefühl, als würde er in zwei Welten leben. Nach außen hin ist er nett, zuvorkommend und angepasst. Dann gibt es seine Innenwelt mit seinen Gedanken und Gefühlen, die er für sich behält. Denn seine Zuneigung zu Hans dürfte von der Außenwelt nicht akzeptiert werden. Der Roman zeigt, wie schwer es schwule Männer damals hatten. Er liefert auch Einblicke in das schwierige Leben von Gastarbeiter*innen. Sie mussten auf engstem Raum zusammenleben. Gearbeitet wurde von früh bis spät. Im Roman hat Luca nur frei, wenn es regnet, weil es dann im Eissalon wenig zu tun gibt. Zum Glück ist es ein verregneter Sommer, als er Hans begegnet.

Marcello Liscia: Ein verregneter Sommer. Querverlag, Berlin 2022.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.