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Kultur

Schreiben als Befreiung

Der 1992 geborene Édouard Louis ist queer und gehört zu den wichtigen Autor*innen Frankreichs. FĂŒr ihn ist Schreiben „eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien“, wie er im Vorwort zu seinem neuen autobiografischen Roman schreibt. Gleich die ersten Seiten sind heftig. So schildert der Ich-ErzĂ€hler, dass er dringend Geld fĂŒr einen Zahnarzt brauchte. Daher bot er sich auf Datingportalen als Prostituierter an. Ein Ă€lterer Kunde wollte von ihm eine bestimmte sexuelle Dienstleistung. Doch der Ich-ErzĂ€hler schaffte es nicht, weil der Mann schlecht roch. Der Ă€ltere Mann bezahlte ihm daher nur die HĂ€lfte des vereinbarten Betrags. Der Ich-­ErzĂ€hler schilderte seine Notlage. Doch der Ă€ltere Mann blieb stur: „Wenn man etwas nur halb macht, kriegt man auch nur die HĂ€lfte. … Du bist noch jung, du wirst das noch lernen.“ Der Ich-ErzĂ€hler war verzweifelt, ging nach Hause und weinte. Die extreme Armut, in der Édouard Louis aufgewachsen ist, hat ihn geprĂ€gt. Im Alter von fĂŒnf oder sechs Jahren begriff er, dass ihn das Wort „Schwuchtel“ definieren und den Rest seines Lebens begleiten wird. Er wollte seit seiner Kindheit ein anderer werden. Er versuchte, mĂ€nnlicher zu sein. Er wollte den anderen im Dorf zeigen, dass er einmal Großes vollbringen werde. Er nahm einen neuen Namen an und ging zum Studium nach Paris. Er hatte Sex mit reichen Menschen. „Mein soziales Begehren vermischte sich mit meinem sexuellen Begehren, ich fĂŒhlte mich zu MĂ€nnern hingezogen, die so aussahen, als entstammten sie der Welt, der ich angehören wollte“, schreibt er. Es ist ein ehrliches, starkes und lesenswertes Buch.

Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden. Aufbau, Berlin 2022.
Übersetzer:in: Sonja Finck

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.