Unsere Utopien und Träume verraten etwas über unsere Wünsche und Bedürfnisse. Daher ist es gut, wenn wir uns damit beschäftigen.
Stellen wir uns folgende Geschichte vor: Eine Person kam zur Psychotherapie, weil sie ein Burn-out hatte. Die Person arbeitete zu viel und war auch sonst gestresst. Die Arbeit machte ihr wenig Spaß, aber die Person traute sich nicht, Nein zu sagen. Auch in der Freizeit konnte sie sich nicht entspannen. Die Person war darauf bedacht, die Wünsche von anderen Menschen zu erfüllen. In der Therapie tat sie ebenfalls alles, um zu gefallen. Sie kam pünktlich, war höflich und zuvorkommend. Auf die Frage, warum sie diesen anstrengenden Job hat, erklärte die Person, sie habe ein bestimmtes Studium gewählt, weil die Eltern meinten, damit könne sie später viel Geld verdienen. Die Person bezeichnete sich weiters als queer, doch das sei ihr nicht so wichtig. Von der Regenbogenparade hielt sie nicht viel, weil dort zu viele „schrille Menschen“ seien. Sie selbst sei auf der Suche nach einer stabilen und monogamen Partner*innenschaft. Als Grund nannte sie, dass auch ihre Geschwister verheiratet seien. Schon als Jugendliche habe sie gemerkt, dass sie queer sei. Sie habe sich dafür geschämt. Sie fühlte sich damals alleine und wollte ihre Queerness verheimlichen. Sie tat alles, um nicht aufzufallen. In der Therapie ging es darum, dass die Person wieder einen Zugang zu den eigenen Gefühlen, Wünschen, Sehnsüchten und Träumen fand. Das war nicht einfach. Denn schließlich wollte sie es allen recht machen, um geliebt und anerkannt zu werden. Doch das war anstrengend und führte zum Burn-out.
Mehr Lebensfreude
In der Therapie verabschiedete sich die Person von früheren Glaubenssätzen wie „Ich bin nicht so wichtig“ oder „Ich muss etwas leisten, um gemocht zu werden“. Anfangs meinte die Person auf die Frage, was sie gerade fühle: „Das weiß ich nicht“ oder „Da bin ich mir nicht sicher.“ Um sich dem eigenen Empfinden zu nähern, probierte sie im Zuge der Therapie viel aus. Dabei fing sie bei kleinen Dingen an: Früher hörte sie immer die gleiche Musik, nun ließ sie sich auf Neues ein. Die Person entdeckte verschiedene Hobbys, ließ sich inspirieren und wurde kreativ. Damit kam die Lebensfreude zurück. Veränderungen gab es auch im Job. Sie ergriff die Initiative und fragte in der Firma, ob sie andere Aufgaben übernehmen kann. Was ihre Eltern oder Geschwister über sie dachten, war ihr nicht mehr so wichtig. Die Person erzählte ihnen nicht mehr alles und grenzte sich teilweise ab. Alte Freund*innen, die diesen Weg nicht mitgehen konnten, traf sie weniger. Gleichzeitig gewann sie neue Freund*innen. Sie besuchte queere Gruppen und entdeckte, wie bunt und vielfältiges queeres Leben sein kann.
Neue Rollen ausprobieren
Im Gegensatz zu früher freute sich die Person nun auf die Regenbogenparade. Sie liebte es, auf queeren Veranstaltungen in neue Rollen und Identitäten zu schlüpfen. Eigentlich hatte sie schon in der Vergangenheit davon geträumt, doch sie hatte sich für solche Wünsche geschämt und diese mit den Worten „das gehört sich nicht“ abgewertet. Früher hatte die Person bei der Partner*innensuche ein genaues Bild, wie die andere Person auszusehen und zu sein hat. Meist ging es auch hier um gesellschaftlich vorgegebene Normen und Konventionen. Doch nun konnte sich die Person davon verabschieden und bei der Partner*innensuche mehr auf die eigenen Gefühle hören.
Als Psychotherapeut liebe ich das Kürzel LGBTIQA*. Damit wird deutlich, dass es neben der Heteronormativität ein breites Spektrum gibt. Und das * dient als Platzhalter für noch viel mehr. Menschen können lesbisch, schwul, bi, trans*, inter*, pan und viel mehr sein. Die Welt besteht nicht nur aus schwarz oder weiß, es gibt nicht nur männlich und weiblich, sondern viel mehr. Auch Beziehungsmodelle können vielfältig sein. Ähnliches gilt für die Gestaltung der Sexualität. Manche Menschen folgen immer dem gleichen Ablauf: Zwei Personen ziehen sich aus und stimulieren sich. Dann folgt der Geschlechtsverkehr und der Orgasmus – und es ist vorbei. Doch es gibt unendlich viele Varianten, wie Menschen sich körperlich nahe sein können. Vielleicht ist es gerade Zeit für Neues, egal ob in der Sexualität, im Beruflichen oder im Privaten. Manche Queers sind oft angepasst, um von den Mehrheitsheteras/os akzeptiert zu werden. Doch das Angepasst-Sein bringt nichts. Damit geht die Lebendigkeit verloren. In diesem Sinne halte ich es für wichtig, dass wir gemeinsam an queeren Utopien arbeiten – dass wir gemeinsam mithelfen, dass die Welt bunter und vielfältiger wird.
Rebellische Seite entdecken
Die Geschichte hat gezeigt, dass queere Menschen oft rebellisch sind. Sie haben sich gegen gesellschaftliche Konventionen aufgelehnt und sind gemeinsam für ihre Interessen eingetreten. Ein gutes Beispiel ist der Stonewall-Aufstand. Auch in Österreich gab es in der Vergangenheit rebellische Akte. So gingen 1982 beim traditionsreichen Neujahrskonzert im Wiener Musikvereinssaal zwei Personen nackt auf die Bühne und forderten auf einem Transparent „Menschenrechte für Schwule“, was beim konservativen Wiener Establishment für Empörung sorgte. Im gleichen Jahr besetzten Queers an der Linken Wienzeile ein leerstehendes Haus. Daraus wurde die Türkis Rosa Lila Villa, die aus dem Wiener Stadtbild nicht mehr wegzudenken ist. Manchmal frage ich mich, wo heute unsere rebellische Seite geblieben ist und ob wir zu angepasst sind.
Neben queeren Utopien auf gesellschaftlicher Ebene sollten wir auch auf unsere persönlichen Träume nicht vergessen. Es gibt verschiedene Arten von Träumen, positive und negative. In diesem Artikel sind positive Träume gemeint, die unsere Wünsche und Sehnsüchte ausdrücken. Jede*r sollte immer wieder mal innehalten und sich fragen: Was brauche ich? Wohin möchte ich mich bewegen? Wonach sehne ich mich? Oft gehen unsere Träume im Alltagstrott unter. Dabei habe ich immer wieder erlebt, dass Menschen erst nach einer Krise, einer Krankheit oder einem Unfall begonnen haben, auf ihre persönlichen Bedürfnisse zu achten. Doch wir sollten nicht auf einen Schicksalsschlag oder eine Krankheit warten, um die eigenen Träume zu verwirklichen. Wir haben nur dieses eine Leben. Und keiner weiß, wie lange es dauern wird.
Mit Ängsten umgehen
Auch psychische Erkrankungen können ein Weckruf sein, wie folgende Geschichte zeigt: Eine Person hatte so starke Ängste, dass sie Medikamente nehmen musste. In der Psychotherapie lernte sie, mit den Ängsten umzugehen. Dann stellte sich die Person die Frage, was ihr die Angst sagen möchte. Die Antwort war, dass die Person wieder mehr auf die eigenen Wünsche achten soll. So erzählte die Person vom Traum, ganz weit weg zu fliegen und dort ohne Stress, ohne Terminkalender und ohne Sorgen einfach am Strand zu liegen und zu chillen. Das sei Freiheit, die sie im jetzigen Leben so sehr vermisse, sagte die Person. Natürlich können manche Träume nicht sofort umgesetzt werden. Die Person beispielsweise hatte zu wenig Geld, um weit weg zu fliegen. In der Therapie ging es darum, wie die Person jetzt mehr Freiheit und stressfreie Zeiten erleben kann. Die Person begann, an jedem zweiten Wochenende im Kalender einen „Tag der Freiheit“ einzutragen. Dann nahm sie sich eine Auszeit. Sie schaltete das Handy ab, fuhr mit dem Fahrrad ins Grüne oder entspannte auf der Donauinsel. Für andere Personen bedeutet Freiheit, mit Freund*innen in eine queere Disco zu gehen und abzutanzen. Zur Vielfältigkeit und Buntheit passt folgender Pride-Spruch: „Wer immer nur schwarz-weiß denkt, wird nie einen Regenbogen sehen.“