Ein persönliches Stimmungsbild
Seit vielen Jahren besuche ich nun biomedizinische HIV-Kongresse. In der Regel sind sie anstrengend, inhaltlich fordernd und geprägt von sehr langen Tagen. Sie sind aber auch geprägt von einzigartiger Energie und Empathie. Das erstaunt mich immer wieder, denn immerhin befasst man sich hauptsächlich mit klinischen Studiendaten und naturwissenschaftlichen Details und es scheint oberflächlich gesehen eher wenig Raum für Emotionen zu geben.
An dieser Stelle erlaube ich mir ein generelles Lob für Mediziner*innen aus dem HIV-Bereich. Die Kongressbeiträge können inhaltlich noch so trocken sein, es ist fast immer zugleich die Sensibilität gegenüber HIV-positiven Menschen oder Menschen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, heraus zu hören. Oft verschwimmen Grenzen zwischen medizinischem Beruf, wissenschaftlichem Ehrgeiz und aktivistischer Energie. Das gibt vielen Kongressen einen fast persönlichen Tonfall und macht sie äußerst speziell.
Und obwohl sie bereits so besonders sind, durfte ich über die Jahre zusätzliche Veränderungen mitverfolgen, wie folgende Beispiele zeigen sollen.
Kommunikation über Frauenanteil: In Vortragsdiskussionen war früher oft die berechtigte Kritik zu hören, dass der Frauenanteil in klinischen Studien zu gering ist. Das ist zwar nach wie vor so, aber inzwischen wird meist bei Präsentationen das Problem auch offen dargestellt. Und es gibt breitere Anerkennung, wenn vergleichsweise viele Frauen inkludiert waren. Für mich persönlich fühlt es sich an, als wäre auf den Kongressen aus einem vermeintlichen Nischenthema eine allgemeine Wahrnehmung geworden. Und dass sich ein anhaltendes Sichtbarmachen eben einfach lohnt.
Begriff mit Nachgeschmack: Veränderungen sieht man auch in der Sensibilität gegenüber einzelnen Begriffen, so etwa dem Ausdruck „late presenter“. Er beschreibt die Situation, dass eine HIV-Diagnose zu einem Zeitpunkt erfolgt, an dem die Infektion bereits lange Zeit unbemerkt und damit untherapiert blieb. Dass es hier einen eigenen Terminus gibt, ist richtig und wichtig. Denn untherapierte HIV-Infektionen führen zu schlechteren Gesundheitsprognosen der Menschen und zu weiteren Übertragungen. Nun bedeutet „late presenter“ jedoch wörtlich gemeint „spät vorstellig werden“. Der Begriff impliziert also, die Person selber hätte sich aktiv früher für einen HIV-Test „vorstellen“ müssen. Er hat damit einen Hauch von Schuldzuweisung. In Realität hatten viele Menschen bereits vor der Erstdiagnose Kontakt zum Gesundheitssystem, ohne dass ein Test empfohlen oder angeboten wurde. Diese sprachliche Nuance findet zunehmend Beachtung und so taucht der neutrale Begriff „late diagnosis“ immer häufiger auf. Ein emotionaler Nachgeschmack für HIV-positive Menschen prägt hier die medizinische Ausdrucksweise.
Gendern auf Kongressen: Natürlich beeinflussen generell die Konferenzen auch die Alltagssprache der Mediziner*innen. Auf deutschsprachigen HIV-Kongressen ist ganz klar der Trend zu sehen: Es wird von „Kolleginnen und Kollegen“ oder „Patientinnen und Patienten“ gesprochen und auf Vortragsfolien findet sich immer häufiger ein Binnen-I oder Gendersternchen. Wirklich schön sind etwa Workshops im offiziellen Kongressprogramm, in denen z.B. erklärt wird, wie man das Gendersternchen ausspricht oder eine Ordination auch für Trans*Personen adäquat gestaltet. Und ein Highlight für mich in jüngster Zeit waren einzelne Sessions, die genderneutral formuliert und in denen das Auditorium mit „Liebe Menschen“ angesprochen wurde.
In solchen Situationen darf ich dann wieder mal feststellen, dass nicht nur die medizinische Entwicklung im Bereich HIV über die Zeit phantastisch ist. Genauso großartig ist es, wie Lebenswelten sichtbarer werden und Raum erhalten, wie die Auswirkungen von Kommunikation und sprachlichen Unterschieden zu sehen und welche Empathie hier von Seiten der Mediziner*innen zu spüren ist. Und so bleiben biomedizinische HIV-Kongresse für mich persönlich auch weiterhin sehr emotional.