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Kultur

Frischer Wind und neuer Viennale-Präsident

Christian Petzold hatte 2023 – damals bereits langjähriger Verbündeter, aber noch nicht Präsident der Viennale – den Film „Roter Himmel“ im Programm, der auf eine Gruppe von Menschen und ihre beschauliche Ostsee-Umgebung fokussiert. Inmitten des sozialen Gefüges gibt es ein schwules Liebespaar, das engumschlungen in den Waldbränden umkommt. Das Ganze ist letztlich traurig, aber der Tod spielt ja in Petzolds Filmen sowieso immer einen natürlichen und nüchternen Part. Der Weg zum Ende hat – wie im Leben – oft komische Anteile.

So auch in seinem neuesten Film, der auf der Viennale gut ankam: „Miroirs No. 3“. Paula Beer spielt darin wieder einen entscheidenden Part, und der Tod ist allgegenwärtig, ohne dass es allzu aufdringlich wird, obwohl sich alles darum entspinnt. Petzold jedenfalls war auf der Viennale wieder äußerst redselig, was den frischgebackenen Viennale-Präsidenten nahbar und sympathisch macht, wenn man nicht seinen Filmen sowieso bereits verfallen ist. So plauderte er in einer Auftaktveranstaltung mit Viennale-Direktorin Eva Sangiorgi über „Experten mit Schuppenbergen auf den Schultern“, die alles übers Kino wissen, aber eigentlich keinen Schimmer haben, über seine Begeisterung für die Nahbarkeit Wiens und der Viennale sowie auch über rechtspolitische Zeitgenossen (weniger, aber auch: Zeitgenoss*innen), die ihm den letzten Nerv rauben mit ihrem Neid und ihrer Kleinbürgerlichkeit, wenn sie zum Beispiel aus Prinzip fordern, dass er die am Filmset extra vorgebaute Terrasse nach Beendigung der Filmarbeiten wieder abreißen muss. Und als er vom „Problem der Distribution“ im Filmgeschäft spricht, lacht er selbstkritisch auf und sagt: „Ich rede schon wie ein Präsident“.

Jedenfalls bringt der 65-Jährige frischen Wind zum Filmfestival. Auffällig ist, dass so viele queere Beiträge im Programm waren, wie gefühlt niemals zuvor. Und die sind nicht irgendwelche Nullachtfünfzehnstreifen, sondern haben es in sich. Ein Favorit unter vielen ist wohl „Honey Don’t!“ von Ethan Coen. Darin schreitet Privatdetektivin Honey O’Donahue – allein der Name ein Gedicht –, dargestellt von Margaret Qualley, immer frisch, aber nicht aufdringlich gestylt durch kalifornische Wüstenlandschaften. Mal im bunten Kleid, meist in dezenten Hosenanzügen, besucht sie Tatorte, kommt Geheimnissen auf die Spur, zählt eins und eins zusammen, um schließlich über manchmal auch schlagkräftige Umwege zum Ziel zu kommen. Männliche Figuren, meist Westentaschenkriminelle, die sich hoffnungslos überschätzen, starrt sie nieder und kontert auf deren Banalitäten mit kurzen prägnanten Sätzen. Frauen* interessieren sie offensichtlich mehr, seien es skrupellose Bandencheffinnen, hilfsbereite Polizistinnen oder schlagfertige Mitarbeiterinnen. Einige werden zu respektierten Gegnerinnen in der Schlacht zwischen Bereicherung und Gerechtigkeit, andere sind geschätzte Verbündete, und schließlich gibt es diejenigen, an denen die Detektivin sexuelles und manchmal sogar emotionales Interesse hat. So oder so, ganz nach Private-Eye-Manier wahrt Honey immer die Contenance, auch wenn es mal gefährlich wird und sie Blessuren einstecken muss. Sie konzentriert sich dabei ganz auf ihre weiblichen Kontrahentinnen und Mitstreiterinnen. Mein Fazit: Das Beste, was Coen, aber auch das Haudeg*innen-Detektivkino insgesamt seit Jahrzehnten hervorgebracht haben.

Auch in „La Ola“ von Sebastián Lelio aus Chile geht es um weibliche Selbstermächtigung; und Lesben, die sich gegen patriarchalische Heteronormativitäten auflehnen, gibt es auch hier. Studentinnen – unter ihnen Daniela López, Avril Aurora, Lola Bravo und Paulina Cortés in den Hauptrollen – wehren sich an der dargestellten Uni zunehmend lautstark gegen sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch. Auf dem Campus und in den Lehrgebäuden wird vor allem, wenn es brisant wird und die Frauen* zu dem Schluss kommen, sich nicht mehr mit Pseudowerten von „Ruhe und Ordnung“ zufriedenzugeben, den toxischen Männlichkeiten tanzend und singend ins verlogene und von Privilegien grinsende Gesicht gesprungen.

Musik spielt auch bei Oliver Hermanus in „History of Sound“ eine wichtige Rolle. Da geht es mit Paul Mescal und Josh O’Connor in die Folk-Szene der amerikanischen Ostküste vor einhundert Jahren zurück. Die beiden jungen Männer, die sich am Konservatorium kennen- und lieben lernen, haben Gelegenheit, ihre Beziehung bei einer Forschungsreise durch Neuengland zu vertiefen. Bedingt durch familiäre und gesellschaftliche Umstände können sie sich trotzdem nicht für ein Leben miteinander entscheiden und orientieren sich beide jeweils in gesellschaftskonformen Bahnen. Irgendwann bleibt nur noch die Sehnsucht nach dem jeweils anderen, bis es dann endgültig zu spät für Gemeinsamkeit ist. Aber die Liebe und das Leben und die Musik hat es in beiden Leben und auch in gemeinsamen Zeiten gegeben – und so endet der Film melancholisch.

Der französische Beitrag „Vie privée“ von Rebecca Zlotowski spielt mit dem Thema „Amerikanerin in Paris“ und knüpft mit Jodie Foster als Psychoanalytikerin Dr. Steiner ans Detektivgenre an. Und dass Dr. Steiner so besessen wirkt von ihrer Mission, den vermeintlichen Mörder ihrer Patientin zu überführen, ist äußerst unterhaltsam. Anders als die Privatdetektivin Honey in dem amerikanischen Beitrag lebt die Therapeutin nicht offen lesbisch, obwohl sie sich in ihren Träumen oder Albträumen auch mit ihrer Liebe zu Frauen auseinandersetzt. Dr. Steiner ist jedenfalls ziemlich aus ihrem alltäglichen beruflichen Alltag geworfen und lässt sich durch die mysteriösen Todesumstände ihrer Patientin in einen Strudel von Selbstzweifeln und Trauer über verpasste Chancen hineinziehen, dem auch ihre vernunftbezogene Expertise hilflos gegenübersteht.

„Gen“ von Gianluca Matarrese begleitet den Endokrinologen Dr. Maurizio Bini in Mailand bei seiner beratenden und behandelnden Arbeit. Der einfühlsame Arzt wandelt scheinbar zwischen den Welten, wenn er sowohl im Bereich medizinisch assistierter Fortpflanzung als auch der Geschlechtsangleichung tätig ist. Für ihn ist das kein Widerspruch, wie er im Film und auch im anschließenden Publikumsgespräch verdeutlicht. Denn er geht auf die Ängste, Nöte, Wünsche und Hoffnungen seiner Patient*innen ein und nimmt jede Person mit ihrer Herkunft, ihrem Lebenslauf und ihren Erfahrungen so an, wie sie ihm gegenübersitzt. Das versteht zwar nicht jede*r in seinem sozialpolitischen Umfeld, wie der Film auch zeigt, bringt ihm aber den Respekt seiner Patient*innen ein, die sich gut beraten und behandelt fühlen, auch wenn der Mediziner nicht in jedem Fall dem ursprünglichen Wunsch der Rat- und Hilfesuchenden entsprechen kann.

Ira Sachs geht in „Peter Hujar’s Day“ sein Filmmaterial ebenso analytisch an wie Matarrese, wenn er einen Tag im Dezember 1974 wieder aufleben lässt, als der Fotograf Peter Hujar der befreundeten Schriftstellerin Linda Rosenkrantz in deren New Yorker Wohnung detailgerecht erzählt, was er in der queeren Szene in den zurückliegenden Tagen erlebt hat. Das Gesprächsduo lässt sich über New Yorker Persönlichkeiten aus – darunter zum Beispiel Susan Sontag und Allen Ginsberg –, diskutiert Mode, Macken und Affären, trinkt Kaffee, stochert in Käse und Torte herum und raucht ununterbrochen. Besonders schön ist die Ausstattung der Wohnung, die Menschen, die heute um die 60 Jahre alt sind, an die Farben und Formen ihrer Kindheit erinnern, als orangene Geometrie auf Kleiderstoffen und knallrote Plastikornamente Ausdruck von Geschmack und Weltläufigkeit waren.

Von Anette Stührmann

Freie Journalistin und Autorin