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Doom-Scrolling im Regenbogen

Warum Social Media fĂŒr queere junge Menschen Ort des Vertrauens und Stressquelle zugleich sind

Als in den frĂŒhen 2000er Jahren die ersten sozialen Netzwerke online gingen, folgte eine kleine Revolution. Eine technologische, durch das, was plötzlich im Internet möglich wurde, und eine gesellschaftliche. Menschen, die sich bis dahin isoliert oder einsam fĂŒhlten, fanden plötzlich Gleichgesinnte. Vor allem fĂŒr sozial benachteiligte Gruppen öffnete sich ein neues Fenster zur Welt.

Am Anfang stand der Austausch

„In der Geschichte sozialer Medien und ihrer Rolle fĂŒr LGBTIQ+ Personen gibt es mehrere Phasen“, sagt MĂ©lanie Millette. Die Professorin fĂŒr Kommunikation an der UniversitĂ€t QuĂ©bec in Montreal forscht zur Nutzung sozialer Medien und deren Funktion fĂŒr gesellschaftlich marginalisierte Gruppen. „Schon in der FrĂŒhzeit des domestic internet, also Internet im Privatbereich, entstanden zahlreiche Foren, in denen sich queere Menschen austauschten und Informationen teilten. Das waren quasi VorlĂ€ufer von sozialen Netzwerken.“

In den spĂ€ten 1990er- und frĂŒhen 2000er-Jahren entwickelten sich so erste digitale RĂ€ume, in denen queere RealitĂ€t Platz hatte. Es wurden Erfahrungen geteilt, Anekdoten erzĂ€hlt, RatschlĂ€ge erfragt. Ängste und Frustrationen hatten ebenso Platz wie Geheimtipps und Lifehacks. Die Plattformen ermöglichten vor allem eines: „Austausch unter dem Radar öffentlicher Kontrolle – das erfĂŒllte eine wichtige Schutzfunktion“, meint Millette.

Als dann Facebook (2004), YouTube (2005), Twitter (2006), Instagram (2010) und Datingportale wie Grindr (2009) online gingen, verlagerte sich der Fokus. Weg vom reinen Informationsaustausch hin zu echten Begegnungen – sei es, um neue Personen mit geteilten Interessen kennenzulernen, oder um alte Bekannte online wiederzutreffen.

Obwohl die digitalen Netzwerke es seither noch einfacher machen, mit Gleichgesinnten am anderen Ende der Welt in Kontakt zu kommen, stellt MĂ©lanie Millette fest: „Überraschend oft suchen Menschen online vor allem nach lokalem Austausch, also Bekanntschaften und News aus ihrer direkten Umgebung. Bei LGBTIQ+ Personen hat das auch damit zu tun, dass queere LebensrealitĂ€ten stark vom kulturellen und geografischen Umfeld geprĂ€gt sind.“

Ein neuer Soundtrack queerer ErzÀhlungen

Die Forscherin betont eine weitere SchlĂŒsselrolle sozialer Medien: das Sichtbarmachen neuer ErzĂ€hlperspektiven aus der Community. „In klassischen Medien wurden LGBTIQ+ Personen lange als tragische, einsame, traumatisierte Figuren dargestellt“, so Millette. „Online dagegen erzĂ€hlen Menschen ihre Geschichte selbst – ungeschönt, vielfĂ€ltig, lebendig.“ Die positiven Narrative seien heute auch zunehmend in traditionellen Medien zu finden.

Gerade fĂŒr queere Jugendliche, die auf der Suche nach Vorbildern sind, ist diese Sichtbarkeit wichtig. Berichte aus erster Hand bieten Informationen jenseits breit diskutierter Fakten. Ein Beispiel: YouTube-KanĂ€le, ĂŒber die trans Personen ihr Coming-out dokumentieren und ihre Erfahrungen außerhalb des medizinischen Rahmens teilen. Die kanadische Wissenschaftlerin nennt das „savoir expĂ©rientiel“ – Wissen, das aus gelebtem Leben kommt. „Das kann unglaublich hilfreich sein, gerade fĂŒr Menschen, die sich auf einen neuen, vielleicht beĂ€ngstigenden Weg begeben.“

„Der digitale Austausch mit Gleichgesinnten ist fĂŒr Jugendliche ein Schutzfaktor“, ergĂ€nzt Patrick Schmitt, Arzt an der Gesundheitsstelle fĂŒr Jugendliche und LGBTIQ+ Junge am Unispital Lausanne, in der Schweiz. „Wer online andere findet, die Ă€hnliche Fragen haben, fĂŒhlt sich weniger allein. Das stĂ€rkt die Resilienz und hilft bei der IdentitĂ€tsentwicklung.“

FĂŒr gesellschaftlich benachteiligte Gruppen sei das besonders wichtig, denn: „Sie leben oft unter dem stĂ€ndigen Druck, sich vor Angriffen und Diskriminierung zu fĂŒrchten. Dieser unterschwellige Stress ist ein Risikofaktor fĂŒr psychologische Belastungen“, erklĂ€rt Schmitt. Online-Kontakte und Zugang zu Ressourcen seien eine wichtige Quelle der UnterstĂŒtzung und des RĂŒckhalts. Und nicht nur Jugendliche profitieren: der Arzt berichtet von Eltern, die dank queerer Influencer*innen lernen, ihre Kinder besser zu unterstĂŒtzen und ein sicheres Umfeld zu schaffen.

Die dunkle Seite des Feeds

Doch die Medaille hat auch eine Kehrseite. Die AbhĂ€ngigkeit von sozialen Medien, angetrieben von perfiden Algorithmen der Plattform-Betreiber, trifft Heranwachsende heute hart. LGBTIQ+ Jugendliche sind ĂŒberdurchschnittlich gefĂ€hrdet. Denn: „Sie sind umso mehr auf der Suche nach Zugehörigkeit, Orientierung, Gemeinschaft“, erklĂ€rt Patrick Schmitt. „Und genau das bieten Social Media, zumindest oberflĂ€chlich.“

Die Netzwerkalgorithmen setzen auf unser biologisches Belohnungssystem. Wenn wir beim Scrollen positive Bilder oder BeitrĂ€ge sehen, wird Dopamin ausgeschĂŒttet – unser „Belohnungshormon“. So zieht uns der Feed immer weiter in seinen Bann, mit der Hoffnung, noch mehr und noch bessere Posts zu entdecken. Queere Jugendliche, die nach aufbauenden Inhalten und BestĂ€tigung suchen, können dafĂŒr besonders empfĂ€nglich sein.

Das Problem dabei: Die Plattformen fördern, was Aufmerksamkeit erregt. Und das sind oft extreme, dramatische Inhalte. Jugendliche werden so mit Themen konfrontiert, fĂŒr die sie in ihrem Entwicklungsstadium noch nicht bereit sind. MĂ©lanie Millette ergĂ€nzt: „Die Sichtbarkeit queerer Personen auf Social Media ist nicht reprĂ€sentativ.“ Wer Erfolg hat, sei oft normschön, binĂ€r, angepasst. Schmitt stimmt zu: „Wer da nicht mithalten kann, fĂŒhlt sich schnell ‚falsch‘.“

Wenn Jugendliche auf TikTok, Grindr und Co derartigen Schönheitsidealen, sexuellen Erwartungen oder Hasskommentaren ausgesetzt sind, hat das tiefgreifende Auswirkungen auf ihre IdentitĂ€tsentwicklung. FĂŒr Patrick Schmitt ein Grund zur Sorge, denn: „Das soziale Lernen findet so hĂ€ufig auf Plattformen statt, die auf OberflĂ€chenreize und Belohnungsmechanismen ausgelegt sind. Wenn der Dopaminhaushalt mit einem Scroll zufrieden ist, braucht es keine echten Begegnungen mehr.“ Die Folgen: Einsamkeit, Angst, depressive Symptome.

Wenn digitale Gewalt real wird

Die Bedrohung beschrĂ€nkt sich aber nicht nur auf den digitalen Raum. MĂ©lanie Millette warnt vor gezielter Hetze, vor TikTok-Accounts, die trans Personen aufspĂŒren und lokalisieren. „Die Gewalt springt zunehmend vom Bildschirm auf die Straße“, sagt sie. Es sei aber auch wichtig festzuhalten: „Gewalt im Netz ist real. Wer online bedroht wird, erlebt psychologisch denselben Stress wie bei einem Übergriff auf der Straße.“ Der „virtuelle“ sei daher nicht mehr vom reellen Raum zu trennen.

In einem neuen Forschungsprojekt zeigt sie auf, wie rechtsextreme Gruppen Social-Media-Inhalte instrumentalisieren, Narrative umkehren und die Verbreitung von Fake News vorantreiben. Ein eindrucksvolles Beispiel seien „detransition stories“ – Berichte von trans Personen, die ihre körperliche Angleichung rĂŒckgĂ€ngig machen. Diese wĂŒrden von einschlĂ€gigen Gruppen bewusst verzerrt, um die Geschlechtsanpassung als problematisch darzustellen und die Idee zu verbreiten, dass eine „GeschlechtsidentitĂ€t“ nicht existiere – eine Darstellung, die wissenschaftlich schlichtweg falsch ist.

ZurĂŒck zur Verantwortung

Die Expert*innen sind sich einig: Die Verantwortung liegt nicht bei den Jugendlichen. Rechtliche Regulierung sei zentral. „Wir alle haben als Gesellschaft vergessen, dass wir unseren öffentlichen Diskurs in die HĂ€nde von Privatunternehmen gegeben haben, die keinen ethischen Auftrag haben. Sie interessieren sich nur fĂŒr Gewinnmaximierung“, sagt Millette.

„Das Verhalten der Plattform-Betreiber ist gegenĂŒber Jugendlichen illoyal. Es kann aufgrund ihres Entwicklungsstandes nicht von ihnen erwartet werden, sich selbst zu schĂŒtzen – das mĂŒssen wir als Gesellschaft tun“, betont auch Patrick Schmitt. FĂŒr den Arzt ist der Ansatz Australiens, wo der Zugang zu sozialen Medien fĂŒr Unter-16-JĂ€hrige seit dem 1.1.2025 gesetzlich verboten ist, ein vielversprechendes Modell.

Und Eltern, Schulen, Vereine? Sie spielen eine zentrale Rolle, aber „viele Erwachsene haben selbst ein problematisches VerhĂ€ltnis zu Social Media“, so Schmitt. Es brauche mehr Schulung und Sensibilisierung – vor allem fĂŒr Bezugspersonen von Jugendlichen. Das Stichwort lautet: PrĂ€vention durch digitale Kompetenz. „Ein sicherer Umgang mit Online-Tools und Plattformen muss von den Eltern vermittelt werden, sollte aber heutzutage auch Teil der Grundausbildung aller Menschen sein“, fordert Schmitt.

DarĂŒber hinaus können gerade Vereine und Jugendzentren hier ansetzen: mit Workshops, Anlaufstellen, AufklĂ€rung. Mit dem Ziel, gerade queere Jugendliche zu befĂ€higen, die Online-Welt wieder zu dem zu machen, was sie sein kann: ein Raum fĂŒr Freiheit, Vielfalt und echte Verbindung.

Von Klara Soukup

Wissenschaftsjournalistin
(Foto Credits: S. Colomer Lahiguera)