Behindertenpass als Beispiel der VerÀnderung
Dank der erreichten medizinischen Erfolge ist ein Leben mit HIV heute nicht annÀhernd mit dem in den Anfangszeiten der HIV-Epidemie zu vergleichen. Aus einer tödlichen Erkrankung wurde durch die Therapie eine chronische Infektion. Heute sind eine hohe Lebenserwartung und gute gesundheitliche LebensqualitÀt möglich. Dieser Erfolg macht sich auch in der sozialarbeiterischen Betreuung und Beratung von Menschen mit HIV bemerkbar, wie Ingrid Neumeier erzÀhlt.
Die Perspektiven in einem Leben mit HIV, die heutzutage möglich sind, wĂ€ren frĂŒher undenkbar gewesen. Denn ohne effektive Therapie fĂŒhrt eine HIV-Infektion im Laufe der Zeit zu massiven gesundheitlichen BeeintrĂ€chtigungen und schweren Zusatzerkrankungen. Die frĂŒhen Therapien konnten zwar den tödlichen Verlauf verhindern, nicht aber weitere spĂŒrbare gesundheitliche Auswirkungen. Viele Menschen mit HIV mussten physische und psychische BeeintrĂ€chtigungen erleben und konnten ihr Alltags- und Arbeitsleben nicht mehr wie vorher weiterfĂŒhren.
Themen wie ArbeitsunfĂ€higkeit und FrĂŒhpension waren fĂŒr viele Menschen mit HIV genauso LebensrealitĂ€t wie ein sogenannter Behindertenpass. Der Behindertenpass gibt einen von Gutachter*innen bestimmten Grad der BeeintrĂ€chtigung an und ermöglicht damit unterschiedlichste VergĂŒnstigungen, Zusatzleistungen oder auch Rechtsschutz. Damit kann der Lebens- und Berufsalltag der Menschen aktiv erleichtert bzw. eine Schlechterstellung verhindert werden. Heute stellt die HIV-Infektion im Regelfall keine Basis fĂŒr einen Behindertenpass mehr dar, denn mit der modernen HIV- Therapie hat sich die Situation komplett verĂ€ndert.
Diese VerĂ€nderung sieht man besonders anschaulich am RĂŒckgang der AIDS-Diagnosen. Zur Erinnerung: Die Diagnose AIDS wird dann gestellt, wenn eine Person mit HIV ein massiv eingeschrĂ€nktes Immunsystem hat oder bestimmte Zusatzerkrankungen auftreten. Bei rechtzeitigem Start und durchgehender effektiver Therapie kommt es nicht mehr zur Diagnose AIDS.
Eine Studie aus Deutschland zeigte dies sichtbar auf. Daten von etwa 23.000 Menschen mit HIV wurden fĂŒr den Zeitraum 1999 bis 2018 ausgewertet. Im Jahr 1999 wurden pro 1000 Personen mit HIV statistisch gesehen 45,6 AIDS-Diagnosen gestellt. Im Jahr 2018 waren es 4,1 Diagnosen. Dass leider immer noch Diagnosen gestellt werden und damit Menschen mit massiven gesundheitlichen Problemen durch die HIV-Infektion zu kĂ€mpfen haben, liegt daran, dass immer wieder die Infektion lange unerkannt und somit ohne Therapie bleibt. Das ist auch in dieser Studie zu sehen, vor allem aber sieht man den enormen Erfolg der HIV-Therapie.
Genauso anschaulich spiegelt sich der Therapieerfolg in der steigenden Lebenserwartung wider. Das Durchschnittsalter der Menschen mit HIV, die in den groĂen HIV-SchwerpunktspitĂ€lern Ăsterreichs betreut werden, lag 2002 bei 39,2 Jahren â aktuell liegt es bei 50,8 Jahren.
Diese Erfolge machen sich natĂŒrlich nicht nur auf medizinischer Ebene bemerkbar. Auch sozialarbeiterische Themen, wie z. B. der oben genannte Behindertenpass als UnterstĂŒtzungsmaĂnahme, haben sich verĂ€ndert.
Interview mit Mag.a (FH) Ingrid Neumeier
Du arbeitest seit vielen Jahren in der AIDSHILFE OBERĂSTERREICH und begleitest Menschen mit HIV in den unterschiedlichsten Lebenslagen. Hast du z. B. mit Behindertenausweisen zu tun?
Ja, allerdings nicht regelmĂ€Ăig. NatĂŒrlich habe ich schon AntrĂ€ge auf einen Behindertenpass mit Klient*innen ausgefĂŒllt. Der Ausweis selbst und der jeweilige Grad sind z. B. nicht unwesentlich fĂŒr Pflegegeld, HeimantrĂ€ge fĂŒr Pflegeheime oder Leistungen nach dem Chancengleichheitsgesetz. Wie ich das so erlebe, fĂ€llt HIV hier aber nicht mehr ins Gewicht, insbesondere da mittlerweile selten AIDS-Diagnosen gestellt werden mĂŒssen. Daher ist dies fĂŒr viele meiner Klient*innen gar kein Thema.
Um ein GefĂŒhl fĂŒr den Wandel der Zeit zu bekommen: Was sind denn Themen, die dich in deinem Arbeitsalltag und deine Klient*innen in ihrem Lebensalltag beschĂ€ftigen?
Die jahrelange Arbeit mit Menschen mit HIV hat sich in den letzten 20 Jahren verĂ€ndert. Am Anfang meiner beruflichen TĂ€tigkeit standen Fragen wie âWie lange lebe ich noch?â, âBin ich lebenslang ansteckend?â, âWie sage ich es Partner*innen oder Familie?â, âKann ich jemals eine Familie grĂŒnden?â oder z. B. âVerliere ich meinen Job?â im Vordergrund. Auch Sterbe- und Trauerbegleitung der Angehörigen waren damals noch sehr prĂ€sent.
Seit ein paar Jahren steht das Thema âĂlter werden mit HIVâ immer stĂ€rker im Fokus. Dank der Therapie ist dies zum GlĂŒck möglich, bringt aber natĂŒrlich auch neue Herausforderungen mit sich â nicht nur auf gesundheitlicher Ebene. Da geht es etwa um Vereinsamung oder die Angst vor AbhĂ€ngigkeit von anderen Menschen im höheren Alter. Eine andere hĂ€ufige Sorge ist z. B. der Zugang zu kultur- und gendersensibler Pflege.
Gedanken um sensible Pflegeangebote im Alter sind vermutlich eher HIV-unabhÀngig?
Ja und nein. Zweifelsfrei ist kultur- und gendersensible Pflege eine grundsĂ€tzliche gesellschaftliche Notwendigkeit, auch ohne den HIV-Kontext. Der Themenbereich beeinflusst die physische, psychische und sexuelle LebensqualitĂ€t von Ă€lteren LGBTQIA+ Personen oder z. B. Personen mit Migrationshintergrund. Das betrifft wirklich viele Menschen, daher mĂŒssen unbedingt ausreichend Angebote sichergestellt werden.
ZusĂ€tzlich ist schon zu sagen, dass viele meiner Klient*innen mit sogenannter IntersektionalitĂ€t konfrontiert sind. Das bedeutet, dass ihr Leben gleich mehrere Faktoren beinhaltet, die jeweils fĂŒr sich bereits deutliches Diskriminierungspotenzial mit sich bringen: Beispielsweise, wenn eine alleinerziehende Mutter mit afrikanischen Wurzeln, die auf Grund der Sprachbarriere schwieriger Arbeit findet, zusĂ€tzlich mit HIV lebt. Je mehr dieser Faktoren, desto eher brauchen die Menschen UnterstĂŒtzung, wie wir sie auch in den AIDS-Hilfen Ăsterreichs anbieten.
In einem anderen Beispiel geht es eher um das Lebensalter und persönlich miterlebte Zeiten. Meiner Erfahrung nach ist z. B. die Gruppe der 50 bis 70-jĂ€hrigen homosexuellen MĂ€nner, die mit HIV leben, sehr belastet. In dieser Altersgruppe hatten viele MĂ€nner stark mit dem âAIDS-Stigmaâ zu kĂ€mpfen und haben durch HIV/AIDS den Familienanschluss, die Partner*innen oder Freund*innen verloren. Das verschĂ€rfte sich durch die Kombination mit der frĂŒher vorherrschenden Diskriminierung und Kriminalisierung von HomosexualitĂ€t. Wenn man dieser ausgeprĂ€gten Mehrfachstigmatisierung von âHIV und homosexuellâ ausgesetzt war, dann kann das die Menschen nachhaltig belasten. Und zwar trotz der ganzen erreichten Erfolge, von denen wir jetzt profitieren dĂŒrfen.
Das heiĂt, im Leben mit HIV haben sich die Problemstellungen verĂ€ndert?
Nicht unbedingt nur verĂ€ndert, ich wĂŒrde vielleicht sagen, zum Teil in der Gewichtung verschoben. Medizinische Themen, die mit der HIV-Infektion in Zusammenhang stehen, sind weniger geworden. Das heiĂt, damit sind auch Aspekte der gesundheitsbedingten physischen BeeintrĂ€chtigungen stark reduziert im Vergleich zu frĂŒher.
Einige psychosoziale Aspekte hingegen sind nicht im gleichen MaĂ weniger geworden und stehen daher bei uns im Berufsalltag mehr im Fokus. Themen der verinnerlichten Stigmatisierung und der vermeintlichen Schuld an der Infektion spielen im Leben vieler Klient*innen eine zentrale Rolle.
ZusĂ€tzlich liegen nicht selten Angststörungen, Depressionen, Suchterkrankungen sowie weitere psychiatrische Diagnosen vor. Eine verminderte psychische Gesundheit und damit einhergehende BeeintrĂ€chtigungen sind auch heute spĂŒrbar.
Insofern hat sich nicht alles ĂŒber die Zeit verĂ€ndert â es geht auch nach wie vor darum, die LebensqualitĂ€t von Menschen mit HIV auf allen Ebenen zu sichern und zu stĂ€rken.