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Queer und behindert

In der queeren Community werden Menschen mit Behinderungen oft übersehen.

Ich bin ein queerer Mann mit einer Mehrfachbehinderung. Ich verwende in diesem Artikel bewusst die Wörter Behinderung und Beeinträchtigung, weil ich den Begriff „besondere Bedürfnisse“ ablehne. Schließlich habe ich die gleichen Bedürfnisse wie alle Menschen – ich möchte angenommen und geliebt werden so wie ich bin. Ich schreibe diesen Artikel, weil es mir wichtig ist, dass in der queeren Community auch die Perspektiven von behinderten Menschen berücksichtigt werden. Denn ich habe den Eindruck, dass wir oft übersehen werden. Ich bin mit einer seltenen genetischen Erkrankung auf die Welt gekommen. Als Kind und als Jugendlicher war ich bei vielen Ärzt*innen und in zahlreichen Spitälern. Erst im Alter von 16 Jahren habe ich eine Diagnose bekommen. Für mich war das ein Schock. Denn mit der Diagnose wurde mir klar, dass keine Heilung möglich ist. Ich musste mich damit abfinden, dass ich das ganze Leben lang behindert bin. Meine Erkrankung kann sich schubweise verschlimmern. Ich muss daher regelmäßig zu medizinischen Kontrollen. Diese sind mühsam und mit Ängsten verbunden. Wird die Erkrankung schlimmer, sind medizinische Eingriffe notwendig. Das Ganze beeinflusst auch mein psychisches Wohlbefinden. Es gab Phasen, in denen ich einfach meine Ruhe haben wollte und die Kontrolltermine nicht wahrgenommen habe. Hinzu kommen chronische Schmerzen, die mit der Beeinträchtigung zusammenhängen.

Das Leben mit einer Mehrfachbeeinträchtigung ist nicht einfach. Christine Steger, die Behindertenanwältin der Republik Österreich, sagt, dass Österreich ein Land mit einer tiefsitzenden Behindertenfeindlichkeit ist. Ich kann das bestätigen. Bevor ich auf Diskriminierungsmuster in der queeren beziehungsweise schwulen Welt Bezug nehme, möchte ich von meinen Erfahrungen in der heteronormativen Welt erzählen, weil ich hier geschlechtsspezifische Unterschiede wahrgenommen habe. Ich bin in der Schule gemobbt worden, weil ich wegen meiner Beeinträchtigung einige Dinge nicht tun beziehungsweise bestimmte Leistungen nicht erbringen konnte. Es waren immer männliche Mitschüler, die mich ausgegrenzt haben. Ich habe den Turnunterricht gehasst. Bei Mannschaftswahlen bin ich immer als Letzter übriggeblieben. Anstatt mich vom Turnunterricht abzumelden, wurde mir von den Eltern und von der Schule vermittelt, dass ich hart zu mir selbst sein soll.

Ich bin auch von männlichen Lehrern gemobbt worden, aber nie von weiblichen Lehrerinnen. Ich kann mich an Situationen erinnern, in der mich männliche Lehrer zum Gespött der Klasse gemacht haben. Heute würde ich mich wehren und solche Lehrer melden. Doch ich bin in den 1970er Jahren in der österreichischen Provinz in einer zutiefst patriarchalen Welt aufgewachsen. Damals gab es kein Internet und keine Schul-Psycholog*innen, an die ich mich hätte wenden können. Meine Eltern meinten nur: „Achte darauf, dass du die Behinderung so gut wie möglich verstecken kannst“. Denn die Eltern hatten Angst, dass ich in die Sonderschule komme und damit noch mehr ausgegrenzt werde. Ich hoffe, dass heute Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen solche diskriminierenden Erfahrungen nicht mehr machen.

Ich musste mir meine Akzeptanz erkämpfen. Zum Glück haben sich die Hilfsmittel für Menschen mit Beeinträchtigungen im Laufe der Zeit gebessert. Früher gab es etwa dicke Hörgeräte, die nicht zu übersehen waren. Heute werben die Hersteller*innen mit dem Slogan „unsichtbare Hörgeräte“. Mit speziellen harten Kontaktlinsen und medizinischen Eingriffen habe ich auch meine Sehbehinderung in den Griff bekommen. Zu meiner genetischen Erkrankung gehört auch, dass sich mein Aussehen verändert. Als ich 15 Jahre alt war, bekam ich am Körper Altersflecken und graue Haare. Ich habe mir früher die Haare färben lassen, doch die Kopfhaut hat die Farbe nach einigen Jahren nicht mehr vertragen. Ich trug auch im Sommer lange Kleidung, damit niemand die Altersflecken sieht. Gleichzeitig fühlte ich mich von Teilen der queeren und schwulen Community, die sehr auf ein gutes Aussehen und perfekte Körper achtet, ausgegrenzt.

Ich habe mich für die Beeinträchtigungen lange Zeit geschämt. Als ich als Jugendlicher gemerkt habe, dass ich auch noch schwul bin, habe ich meinen Körper noch mehr gehasst. Denn „Behinderter“ und „schwule Sau“ waren oft gehörte Schimpfwörter unter Jugendlichen. Ich hielt die Homosexualität auf dem Land geheim. Schließlich war ich als Mann mit Mehrfachbeeinträchtigungen schon genug ausgegrenzt. Ich habe die Schule geschafft und zog zum Studium nach Wien. Dort hatte ich mein Coming-out. Doch Menschen mit Beeinträchtigungen waren in der damaligen schwulen Community kaum präsent. Die meisten Bars und Lokale waren nicht barrierefrei. Auch in schwulen oder queeren Medien kommt das Thema Behinderung nicht vor. Es scheint, als ob wir gar nicht existieren würden. Oder werden wir unsichtbar gemacht?

Tatsache ist, dass sich die verschiedenen Behindertenverbände nicht wirklich mit queeren Themen auseinandersetzen. Und auch in der queeren Community sind Menschen mit Beeinträchtigungen kaum vertreten. Dies fängt schon bei Filmen und Serien an, wo generell wenige Menschen mit Behinderungen zu sehen sind. Zwar gibt es die eine oder andere queere Serie mit Menschen mit Beeinträchtigungen wie die Netflix-Serie „Ein besonderes Leben“ (Originaltitel: „Special“). Dabei handelt es sich um seltene Ausnahmen.

Ich habe gelernt, dass ich mir in der Beziehung zu meinem Körper eine positive Sichtweise aneigne – nach dem Motto „das Glas ist halbvoll und nicht halbleer“. Auch wenn meine Behinderung Einschränkungen mit sich bringt, hängt es von meiner inneren Einstellung ab, ob ich mich darüber ärgere oder ob ich mich auf die positiven Seiten fokussiere. Das gelingt mir nicht immer. Ohne Kontaktlinsen sehe ich leider fast nichts mehr. Es gibt immer wieder Tage, da habe ich solche Schmerzen, dass ich die Kontaktlinsen schon früh am Abend herausnehmen muss. Leider bringt bei mir eine Brille fast keine Verbesserung. Anstatt frustriert zu sein, dass ich an manchen Abenden nichts mehr lesen und keine Filme sehen kann, höre ich mit dem Hörgerät Hörbücher. Zum Glück gibt es vom Blinden- und Sehbehindertenverband für Behinderte eine kostenlose Hörbücherei. Dort sind aber nur drei queere Hörbücher aufgelistet.

Meine Behinderung ist nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar. Dank Hörgerät und Sehbehelfen komme ich gut über die Runden. Im Theater achte ich darauf, dass ich Plätze möglichst weit vorne habe. Ich freue mich darüber, dass es mit dem Behindertenpass entsprechende Ermäßigungen gibt. Ich vermeide Partys und Gruppen, in denen Menschen wild durcheinander sprechen. Ich gehe selten zu Weihnachts- und Geburtstagsfeiern, sondern ich feiere lieber zu zweit in einem ruhigen Raum ohne Hintergrundmusik. Insofern kann ich auch gut als Psychotherapeut arbeiten, weil ich mich dann nur auf eine Person im Raum konzentrieren kann.

Ich wünsche mir, dass in der queeren und schwulen Community mehr über den Umgang mit Beeinträchtigungen und über Ableismus gesprochen wird. Beim Thema Ableismus geht es um Strukturen und Denkweisen, mit denen Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Erkrankungen diskriminiert werden.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.