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Umgang mit hoch­gewichtigen Menschen

Keine Norm sollte unreflektiert bleiben

„Du schaust großartig aus – hast du abgenommen?“ Diese Frage bzw. Feststellung ist ein hĂ€ufiges Kompliment. Aber was sagt man da eigentlich? Wieso ist es ein Kompliment? Der Umgang mit dem eigenen Körpergewicht ist fĂŒr viele Menschen eine enorme Herausforderung. Die Bewertung des Gewichts anderer Menschen hingegen ist meist selbstverstĂ€ndlich. Im Interview diskutiert Aktivist*in Ronja Ziesel das Gewichtsthema und ruft dazu auf, sich reflektierter mit vermeintlichen Normen auseinanderzusetzen.

BL: Wir starten gleich mit der Frage: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Gewichtsdiskriminierung und queerer Community?

RZ: Ich finde, die queere Community geht sehr offen und achtsam mit Menschen um. Ich erlebe hier wenig gewichtsbezogene Diskriminierung. Vor allem mit gender-nonconforming Menschen habe ich gute Erfahrungen gemacht. Aber es gibt natĂŒrlich auch in den queeren Lebenswelten Bereiche, in denen das Gewichtsthema schwieriger ist.

Im Zusammenhang mit queeren Themen möchte ich eher einen Vergleich ziehen: Gewichtsdiskriminierung ist eine Diskriminierungsform, die noch nicht als solche anerkannt wird. Nehmen wir im Gegensatz dazu etwa Homophobie oder Transphobie. Da gibt es zum GlĂŒck mittlerweile oft Situationen, in denen dieses Verhalten klar verurteilt wird. Dem ging ein jahrzehntelanger Kampf voraus und trotzdem sind wir noch nicht bei einer Gleichbehandlung innerhalb der Gesellschaft angekommen.

Bei Gewichtsdiskriminierung ist das nicht so. Sie ist nach wie vor extrem stark in der Gesellschaft verankert. Da gibt es wenig bis keine Erfolge fĂŒr ein diskriminierungsfreies Leben. Der Tenor lautet: „Gewichtsreduktion ist positiv und Gewichtszunahme ist negativ.“ Gerade in den Bereichen SexualitĂ€t und Medizin ist diese Meinung sehr prĂ€sent.

Geht man mit gewichtsbezogener Diskriminierung anders um als bei Bezug zu queeren Themen?

Ja, schon. Wenn sich z. B. Mediziner*innen negativ ĂŒber meine SexualitĂ€t Ă€ußern, dann gibt es Möglichkeiten, sich zu wehren. Ich kann etwa ein homophobes Verhalten bei der Patient*innen-Anwaltschaft melden. Dasselbe funktioniert aber nicht bei Gewichtsdiskriminierung, weil es eine anerkannte Meinung in der Medizin ist, dass hohes Gewicht schlecht ist.

Was sind deine Erfahrungen zum Umgang mit hochgewichtigen Menschen in der Medizin?

Ein besonders sichtbarer Aspekt ist, dass fast alles dem Gewicht zugeschrieben wird, auch wenn es keinen Zusammenhang gibt. Ich denke, viele trans Menschen kennen diesen Effekt nur zu gut nach dem Motto: Der Arm ist gebrochen und sofort wird irgendwie ein Bezug zu trans Themen gezogen. Das ist bei hochgewichtigen Menschen genauso.

Besonders schwierig ist es bei der sexuellen Gesundheit. Denn hochgewichtigen Menschen wird SexualitĂ€t hĂ€ufig abgesprochen. In der Gesellschaft allgemein und auch im medizinischen Setting. Das heißt, Aspekte der sexuellen Gesundheit werden gar nicht erst thematisiert. Die Annahmen der jeweiligen Mitarbeiter*innen definieren damit unsere Gesundheitsförderung.

Oder ich denke da an die Verweigerung einer Behandlung, z. B. wenn manche OPs ab einem bestimmten BMI nicht durchgefĂŒhrt werden. Das liegt meist nicht an den einzelnen Mediziner*innen, da ist das ganze System beteiligt. Student*innen lernen nicht mit hochgewichtigen Menschen. Und in den Studien werden viele Menschen von vornherein ausgeschlossen, z. B. auch mit hohem BMI. Es gibt also keine guten Daten und Erfahrungen und das ist logischerweise mit einem schlechteren Outcome fĂŒr die Patient*innen verbunden.

Einstufung nach BMI – wir alle kennen diesen Wert. Möchtest du den BMI gleich mal kommentieren?

Unbedingt, es lohnt sich, genauer hinzuschauen. Zum einen entstammt der BMI gar nicht der Absicht, einzelne Menschen zu bewerten, sondern war ein statistisches Tool, um ganze Bevölkerungen zu vergleichen. Und wir wissen – Statistik hat nicht viel mit der persönlichen RealitĂ€t zu tun. Rein statistisch gesehen gibt es ja auch mehr heterosexuelle cis Menschen. Und alle Personen mit queerem Bezug wissen, das entspricht nicht dem eigenen Leben. Statistiken sind also nur reflektiert zu betrachten. Das gilt auch fĂŒr den BMI. Von Expert*innen gibt es lĂ€ngst klare Aussagen, dass der BMI kein medizinisches Tool und kein guter PrĂ€diktor fĂŒr individuelle Gesundheit ist. Es wird aber noch lange dauern, bis diese Aussage im System verankert ist.

Bleiben wir noch kurz beim Gesamtsystem. Gibt es Bereiche, die diese systemimmanente Diskriminierung besonders verdeutlichen?

Ein Beispiel fĂŒr die AbsurditĂ€t des Umgangs mit Körpergewicht ist die Abnehm- und DiĂ€tkultur. Ganze Industriezweige beschĂ€ftigen sich mit Mitteln, die beim Abnehmen unterstĂŒtzen sollen. Interessant ist: Den hochgewichtigen Menschen werden die Mittel fast aufgezwĂ€ngt und sind als gut eingestuft. Bei niedriggewichtigen Personen hingegen wird der Anwendung etwas Krankhaftes unterstellt. Die gleiche Intervention wird also als sehr negativ eingestuft. Beides wird in den sozialen Medien unglaublich diskriminierend hochstilisiert.

Die vermeintliche „Gewichtsnorm“ ist eng begrenzt – zumal ein Körper lebenslang hineinpassen soll. So viele Menschen kĂ€mpfen ihr Leben lang damit, dieser „Norm“ zu entsprechen. Das kostet unzĂ€hligen Menschen LebensqualitĂ€t, psychische und auch physische Gesundheit. Dennoch sehen wir wenig Änderung. Die Gesellschaft hĂ€lt daran fest: Gesund sein, bedeutet dĂŒnn sein.

Was macht das mit Menschen individuell?

Auch der Grat zwischen DiĂ€tkultur und Essstörung ist unglaublich schmal. Die Aussage ist: Höre nicht auf deinen Körper, sondern höre auf externe Werte, wie z. B. den BMI. Als hochgewichtige Person lernt man das von Anfang an. Wie soll man da ein gutes VerhĂ€ltnis zu Essen, zu den Zeichen, die dir dein eigener Körper gibt, oder zu sich selbst aufbauen? Viele hochgewichtige Menschen, die ich kenne, leiden unter einer Essstörung. Und sie werden dafĂŒr belohnt, da es ja dem Abnehmen dient. Leiden niedriggewichtige Menschen unter einer Essstörung, werden sie fĂŒr dieses Verhalten bestraft. Das ist einfach furchtbar.

Du hattest eingangs SexualitÀt erwÀhnt. Was siehst du hier auf individueller Ebene?

Die Unterstellung, hochgewichtige Menschen hĂ€tten keine SexualitĂ€t, ist oft spĂŒrbar. Die Aussage „Sei doch froh, wenn du jemanden als Beziehungs- oder Sexualpartner*in hast“ schwingt mit und impliziert, dass es eine Besonderheit ist oder man es eigentlich nicht wert sei, geliebt und begehrt zu werden.

Innerhalb von Beziehungen entsteht dann schnell eine emotionale Erpressung nach dem Motto: Es will dich eh keine andere Person außer mir, also sei dankbar und fĂŒge dich meinen Konditionen. Es entsteht leicht emotionale und sexuelle Gewalt gegenĂŒber hochgewichtigen Menschen. Und warum? Weil unreflektiert einer Gesellschaft recht gegeben wird, die besessen davon ist, nicht höhergewichtig zu sein. Menschen registrieren teils gar nicht, wie sie anderen gegenĂŒber agieren.

So wie das vermeintliche Kompliment, das viele von uns kennen?

Unbedingt. Die Frage „Du schaust gut aus – hast du abgenommen?“ ist genau das. Letztlich wird hier gesagt: Weil du abgenommen hast, siehst du besser aus. Bedeutet also, mit mehr Gewicht ist man nicht schön und Gewichtsverlust ist das ultimative Ziel ohne RĂŒcksicht auf die Menschen dahinter. Dass diese Frage fast immer als Kompliment gemeint ist, macht deutlich, wie tief verwurzelt die negative Bewertung von Menschen mit höherem Gewicht ist. Man muss einfach mal anfangen, darĂŒber nachzudenken!

Kommen wir abschließend noch mal zu den queeren Lebenswelten. Was wĂ€re hier eine Message, die du mitgeben möchtest?

Da möchte ich gerne das Thema der Hormonbehandlung im Rahmen einer Transition ansprechen.

Oft habe ich erlebt, dass es in GesprĂ€chen zur Hormonbehandlung plötzlich heißt „Achtung, davon nimmt man zu“ und dass trans Personen Angst davor haben oder bekommen. Das ist doch unertrĂ€glich, wenn trans Menschen so viel auf sich nehmen, eben z. B. auch mit Hormonen und dann wird ihnen gleich die nĂ€chste Diskriminierung umgehĂ€ngt.

Daher möchte ich auch in unserer queeren Lebensbubble motivieren, andere Diskriminierungsformen, wie eben die gewichtsbezogene, öfter zu reflektieren. Wenn wir als Community die Kraft haben, gemeinsam gegen die heteronormativen Ansichten zu kÀmpfen, dann sollten wir uns auch nicht ungefragt anderen Normen unterordnen.

Von Birgit Leichsenring

Mikrobiologin und biomed. Wissenschaftskommunikatorin (www.med-info.at)