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Wir haben es selbst in der Hand!

Die Verantwortung für unser Handeln nimmt uns keine „Gött*in“ ab

Wissen, Glaube, Aberglaube und Gefühle bestimmen unser Handeln. Doch was können wir wissen oder wahrnehmen und wie wirkt es sich auf unsere Entscheidungen aus? Ein etwas längerer Exkurs.

Tautologien des Soziallebens (Aufklärung I)

„Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau“. Der Titel des Buches von Phenix Kühnert verweist auch auf „Ein Tisch ist ein Tisch“. Allein die Verdreifachung zeigt, dass da noch was Anderes offen ist. Es verweist auf mehrere Dimensionen von „Frau“. Denn die Tautologie „Ein Tisch ist ein Tisch“ sichert unsere robuste Beziehung allein zu den Dingen, weil sie eine robuste Beziehung zwischen Menschen stiftet (Eduard Kaeser 2019). Es handelt sich dabei um ein linguistisches Sozialverhalten, um ein – wie Wittgenstein sagt – Sprachspiel. Dieses Sprachspiel macht sich „Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau“ insofern zu Nutze, als es über die Substantivierung möglicher Eigenschaften von Menschen* hinausweist. Denn diese Zuschreibungen sind über die Zeit einfach nicht statisch. Es ändern sich die Bedeutungsketten im Sozialen und es kommen neue Worte hinzu, welche vielleicht etwas beschreiben, was vorher nicht benennbar, oder schlicht nicht erfassbar war. So hat Kant bereits in seiner Erkenntnistheorie festgehalten, dass das „Ding an sich“ von Menschen* nicht erfahrbar ist, da ihnen die Sinne dafür fehlen. Das hat ganz praktische Auswirkungen, wie der Astrophysiker Jon Ippolito beim Ars Electronica Symposium 2001 betonte. Wir können nicht einmal 10 % dessen sinnlich erfassen, was uns umgibt. Wir haben keine Sinne für Magnetismus, Radioaktivität, Ultra- oder Infraschall oder Bereiche des Lichtspektrums, und, und, und. Das ist ganz banal und braucht keine okkulte mystische Transzendenz. Für Erkenntnisse über unsere Sinne hinaus sind wir auf unsere Werkzeuge angewiesen, welche uns nicht direkt Erfahrbares zugänglich machen. Wir sind damit zu 90 % mit Krücken unterwegs. Die neu entwickelten Werkzeuge, Knowhows und Technologien hatten im 20. Jh. einen sprunghaften Anstieg an Wissen zur Folge. Manche sprechen von einem exponentiellen Anstieg.

Immer wieder Neues

Das hätte allerdings auch zur Folge, dass 50 % des normalen Schulwissens nach 20 Jahren obsolet sind oder sich schlicht als falsch herausgestellt haben. Bei Technologien ist dies bereits nach 3 Jahren der Fall. Das sind Schätzungen, da sich Wissen und dessen Relevanz nicht genau erfassen lassen. Die Zahlen kamen 1960 aus der Wissenschaft, waren dann populär und tauchten um die 2000er Jahre in unterschiedlichen wissenschaftlichen Fächern wieder auf, wie Torger Möller 2017 nachforschte.

Fest steht, dass sich mit der Zeit unser Wissen verändert hat. Heute wissen wir, dass es bereits in der Frühzeit Krieger*innen gab und dass die Neandertaler nicht ausgestorben, sondern mit uns verschmolzen sind, und dass Geschlecht sehr viele Ausprägungen hat (Angelika Hirschberg 07.08.2024). Altes Wissen ist aber nicht zwingend wertlos, so wie das erste Antibiotikum, Balds Augensalbe im 10. Jh., (Freya Harrison et al 2015), für die meisten Lebensbereiche aber irrelevant. Mehr dazu weiter unten.

Hinzu kommen neue (Verstandes)Begriffe. Diese sind nicht rezeptiv, sondern produktiv, das ist, in kantischer Terminologie, „die Spontaneität der Begriffe“, die durch ihre gestaltende Funktion die Wahrnehmung bei „Affizierung“ (Erregung) der Sinne erzeugt. Das trifft wohl genauso auf den Begriff „Sexismus“ zu, wie heute auf „Gender“.

In einer Straßenbefragung in den 70er Jahre wurde „Sexismus“ als Modewort abgetan und im besten Fall mit übermäßigem Sex in Verbindung gebracht. Die Wortbildung legt allerdings im Deutschen das Missverständnis nahe, dass es sich dabei um eine auf den Geschlechtsverkehr fokussierte Geisteshaltung handelt. Deutschsprachige Aufklärung muss insofern stets gegen die Bedeutungsverengung anarbeiten.

Inzwischen ist „Sexismus“ (Leet 1965) kein Neuwort mehr und hat laufend intersektionale Erweiterungen erfahren. So können wir heute, wie bei anderen Diskriminierungen, zwischen den Grundformen unterscheiden: traditionell (offen), wohlmeinend (benevolent), feindselig (hostil), ambivalent und modern (Neosexismus). Inzwischen ist ein Stern dazugekommen und ist nun Sexismus*. Aus der „Abtreibung der Frauenfrage“ wurde eine „Geschichte der Unterdrückung“. Ersteres kommt als Argument immer wieder in der Diskussion um Trans* vor und wird von „Radikalfeminist*innen“ oder doch von Teilzeitfeminist*innen (Heike Kleen 2022) vorgetragen: Die Auslöschung (Canceling) der Frau durch Trans*. Wird damit nicht verdeckt, dass die Unterdrückung nach 50 Jahren immer noch besteht und zu wenig erreicht wurde? Wird damit nicht indirekt die Geschlechtertrennung mit einem vorherrschenden Geschlecht gestützt?

Denn: „The only way a man can be a man is if a woman is a woman“ (Elizabeth Janeway). Vielleicht stand auch aus diesem Grund die Frage der Kategorie Frau bei den diesjährigen olympischen Spielen derart im Vordergrund. Wird die Kategorie Frau unscharf, verliert auch Mann seine Definition. Hier aber ein kurzer Bruch. Um welches Wissen geht es und wie wird es eingesetzt?

Altes und nutzloses Wissen und die Bedeutung der Religion (Aufklärung III)

1905 hat David Hansemann die Mitschriften seiner Vorlesung zum Aberglauben und der Medizin veröffentlicht und auf die Gefahren des Aberglaubens besonders bei Geburt, Geschlechtskrankheiten und Geisteskrankheiten hingewiesen. Er setzt sich auch mit Aberglauben bei Heilung und Kurpfuscherei auseinander. Dabei weist er im ersten Kapitel darauf hin, dass manches aus indischen Schriften mehrere tausend Jahre vor Christi entstand und weiter tradiert wurde. Ein Gutteil des Aberglaubens ist für ihn jedoch nachweislich mit der christlichen Religion verbunden. So gilt die Zahl 7 seit dem Altertum als böse Zahl. Doch erst 1562 wurde sie dem Teufel zugeordnet und erst 1662 ist von einer Frau als die böse Sieben die Rede. Dabei hat die Sieben in der Medizin durchaus Bedeutung. Wie er unter anderem ausführt, ist eine Lungenentzündung am siebten Tag am tödlichsten. So wurde altes Wissen schließlich von religiösem Aberglauben (Teufel) überlagert, übersteigert und verwischt. Für LGBTIQ+ bezüglich Aberglaube am relevantesten wäre hier wohl die Austreibung des bösen Geistes (Konversion), welche ich hier aber bewusst auslasse.

Anfang des 20. Jh. war das wissenschaftliche Interesse am Aberglauben wohl sehr groß. 1908 entstand die Idee zu einem „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“, welche von 1924-1942 dann seine Umsetzung fand. Auf über 16.000 Seiten wurde der „Volksglaube“ oder Aberglaube mit ausführlichen Quellenangaben inventarisiert. Ein Fundus für Zauber und sonstigem allerlei. Allein das Stichwort „Volksmedizin“ umfasst ca. 800 Einträge, das Stichwort Zauberei über 200 Einträge.

Eine kleine Kostprobe zum Stichwort Geschlecht: „In der Oberpfalz kann der Bauer die Bäuerin ärgern, indem er, wenn sie Eier sieden will, sein G. in die Hand nimmt: Die Eier werden dann nicht hart. Die Bäuerin kann sich aber rächen, indem sie in die Pfanne schlägt: dann trifft es den Mann am bewussten Ort und vertreibt ihm für die Zukunft die Lust an solchem Spaße.“ Ich nehme an, dieser Aberglaube lässt sich leicht von Jeder* falsifizieren. Es funktioniert einfach nicht.

Zur Bedeutung des Glaubens

Laut einer aktuellen Befragung glauben etwa 38 Prozent an ein vorherbestimmtes Schicksal, 37 Prozent an die Kraft des Universums und 37 Prozent daran, dass alles mit allem verbunden ist. Vorstellungen dieser Art finden sich sowohl bei religiösen als auch nicht-religiösen Personen. Während Menschen, die sich dem islamischen Glauben oder dem Katholizismus zuordnen, eher angaben, an das Schicksal zu glauben, war die Zustimmung bei Menschen evangelischer Konfession, Atheisten und Agnostikern deutlich geringer als im Schnitt (Patrick Rohs: Was glaubt Österreich 2024).

Glaube selbst ist unproblematisch und mehr als legitim, sogar essentiell. Niemand kann heute alles wissen. Die Zeiten der Weltchronik des Hartmann Schedel von 1492, einem Kompendium des zu der damaligen Zeit Wissbaren, vom Anfang bis zum Untergang, sind längst vorbei. Das gab es auch damals schon nicht.

Auch Wissenschaftler*innen glauben auf verschiedenen Ebenen. Professionell formulieren diese ihre zu prüfenden Annahmen als Hypothesen oder Theorien, welche in den seltensten Fällen selbst theoriegeleitet sind. Diese Hypothesen entwickeln sich meist auf der Basis von Beobachtungen, sind aber aus unterschiedlichen Gründen, ethischen, technologischen, finanziellen, personellen und oft auch politischen Gründen (will nicht gewusst werden), zuweilen nicht überprüfbar. Nicht selten spielt in den Wissenschaften der Faktor Zufall oder gar „Unfall“ eine wesentliche Rolle.

Es braucht also kein Bekenntnis zu einer Kirche oder Institution, keine Taufe, keine Konfirmation oder Firmung, um zu glauben. Problematisch wird es bei der Institutionalisierung des Glaubens und damit einhergehenden Machtansprüchen, dem Anspruch auf universelle Wahrheit.

Es ist zu einfach, die Verantwortung für das eigene Handeln einem Schicksal zu überlassen. Aus diesem Grund, um kurz an den Anfang dieses Textes zu springen, substantiviere ich und schreibe Trans groß: „Ein*e Trans ist ein*e Trans, ist ein*e Trans“. Auch wenn es durchaus problematisch ist, Personeneigenschaften so in den Vordergrund zu stellen, weil es die Gefahr der diffamierenden Essentialisierung bedeutet, erhält die Person doch eine Handlungsmacht und ist Teil des (Sprach-)Spiels. Ich berufe mich dabei auf den strategischen Essentialismus, den Spivak bereits 1987 für „Frau“ formulierte.

Wir haben es selbst in der Hand (Aufklärung II)

Nach dem 18. Jh. und dem 20. Jh. springe ich nun ins Frankreich des 19. Jhs. zurück. Damals gab es eine Renaissance der Aufklärung und es wurde versucht, eine „Idéologie“ im Sinne eines Projektes einer „einheitlichen Wissenschaft der Vorstellungen oder Wahrnehmungen“ zu finden. Diese sollte durch breite Aufklärung der Vorbeugung gegen eine neuen Schreckensherrschaft dienen. Insofern ist der immer wieder im politischen Kontext folgende Ideologievorwurf manchmal gar nicht so falsch.

Ursprünglich vom Vatikan in Form der „Gender-Ideologie“ 1995 gegen Queere* und Feminist*innen erfunden, wurde es auch von nationalen und extremen Rechten nur zu gerne aufgegriffen. Aus „Gott“ und „Schöpfung“ wurde dort, die Quelle verschleiernd, „Natur“. (Goetz, Mayer 2023). Der Vorwurf der Ideologie kommt zunehmend auch aus, sich als „Mitte“ mit der schweigenden Mehrheit verstehenden, Kreisen, namentlichen den „Türkisen“.

Schon im 19. Jh. wurde die Schule der Idéologie als wirklichkeitsfremdes, spekulatives Systemgebäude angegriffen. Es kam zum Kampf der eingesessenen Ideologen mit einer zentralen Idee (Gott, Rasse, Volk, Kultur) gegen die, wie sie sich selbst bezeichneten, Idéologisten, in deren Mittelpunkt nie nur eine Sicht, sondern allein eine einheitliche Wissenschaft stand. Ideologiekritik war der Aufklärung immer immanent. Zentrales Ziel war die Befreiung des Bewusstseins der Menschen von Aberglauben, Irrtümern und Vorurteilen.

Damit entlarven sich die Ideolog*innen, also Kirche, Nationale, Rechte und neuerdings auch die „Mitte“, mit ihrem Ideologievorwurf, kennen sie wohl nur ein kohärentes Weltbild auf Basis unzutreffender Prämissen, wie das Vorherrschen von Gott, Rasse, Volk oder eben Natur, um ja nicht Schöpfung sagen zu müssen. Vernunft hat hier wohl keinen Platz mehr.

Wir haben es selbst in der Hand, der Herrschaft des Schreckens mit ihrer Verbreitung von echauffierenden Falschinformationen, der modernen Form des Aberglaubens, Einhalt zu gebieten und lieber mal ein wenig zu recherchieren, bevor wir etwas weiterleiten.

Viel wichtiger noch: Wir haben es selbst in der Hand, einer neuen real drohenden Schreckensherrschaft vorzubeugen, indem wir uns nicht dem Schicksal ergeben, sondern unser „Schicksal“, unsere Zukunft, selbst in die Hand nehmen und nicht nur bei Wahlen, aber auch hier, handeln.

Die Verantwortung für unser Handeln nimmt uns so oder so niemand ab.

Von Mia Mara Willuhn

Soziologin in Wien und seit Beginn der 1990er Jahre Transaktivistin. Sie hat 1992 die Selbsthilfegruppe für Trans in der Rosa-Lila-Villa mitbegründet, wie auch den Verein TransvestitIn 1994.