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Mein Zorn auf die katholische Kirche

Als ich jung war, habe ich queere Menschen – und damit auch mich selbst – gehasst. Schuld daran war die katholische Kirche. Ich bin in den 1970er Jahren in einem kleinen Dorf tief in der österreichischen Provinz aufgewachsen. Es war eine Zeit, in der es kein Internet gab. Zuhause hatten wir noch einen Schwarz-Weiß-Fernseher, mit dem wir nur ORF1 und ORF2 empfangen konnten. Die nächste Landeshauptstadt war mit öffentlichen Verkehrsmitteln eineinhalb Stunden entfernt. Im Dorf war das gesellschaftliche und politische Leben eng mit der Kirche verbunden. Alles war streng katholisch und konservativ ausgerichtet. Der sonntägliche Kirchgang war Pflicht. Frauen waren wenig wert. Bei uns gab es keine Ministrantinnen.

Bei kirchlichen Prozessionen wurde die patriarchale Herrschaftsordnung im Dorf abgebildet. Vorne ging der Pfarrer mit dem Allerheiligsten, dann folgten der ÖVP-Bürgermeister, Großbauern und Großgrundbesitzer (nur Männer). Nach einem gewissen Respektabstand marschierten die „einfachen“ Männer wie Arbeiter und Angestellten. Erst ganz zum Schluss durften die Frauen erscheinen.

Ich wollte hetero werden

Ich kann mich noch gut erinnern, als der Pfarrer im Religionsunterricht über sexuelle Verbote sprach und Homosexualität als Todsünde bezeichnete. Demnach würden Schwule (es war nie von Lesben die Rede) nach dem Tod direkt in die Hölle kommen. Homosexualität sei verachtenswert und müsse ausgemerzt werden, wurde mir eingetrichtert. Als ich in der Pubertät gemerkt habe, dass ich mich zu Männern hingezogen fühlte, habe ich mich dafür geschämt. Ich konnte mit niemandem darüber reden. Ich habe mich gefragt, warum es ausgerechnet mich getroffen hat. Ich habe alles Mögliche versucht, um hetero zu werde. Ich habe gebetet. Ich habe versucht, beim Masturbieren an Frauen zu denken. Doch meine homosexuellen Gedanken sind nicht verschwunden. Ich habe in meiner jugendlichen Naivität katholische Priester bewundert, weil ich geglaubt habe, dass sie ihre Sexualität abtöten konnten. Genau das wollte ich auch. Nach jeder Masturbation hatte ich Schuldgefühle. Mein Selbsthass wurde immer größer. „Selbsthass ist die schlimmste Form des Hasses“, schreibt der Psychiater Reinhard Haller. Hass sei destruktiv und auf Zerstörung ausgerichtet. „Dem Selbsthass gehen immer Angriffe auf den Selbstwert, Kränkungen und Traumatisierungen oder Benachteiligung und Entwürdigung voraus“, so Haller.

Die Wut gab mir Energie

Ich tat alles, um schnell aus der Enge des Dorfes wegzukommen. Gleich nach der Matura zog ich zum Studium nach Wien. Doch leider gab es für mich in Wien keine sexuelle Befreiung. Es folgte die Aids-Krise, was in mir eine unglaubliche Angst vor Sexualität auslöste. Es sind damals viele Schwule gestorben. Ich habe einige gekannt. Es war eine schwere und traurige Zeit. Wenn ich heute darüber schreibe, habe ich Tränen in den Augen. Damals konnte ich keine Gefühle zeigen. Die Angst hat mich gelähmt. Im Dorf hatte ich Angst, als Schwuler entdeckt zu werden – und in Wien hatte ich Angst, mich mit einer damals tödlichen Krankheit anzustecken. Anstatt Empathie und Mitgefühl für Menschen in einer schwierigen Situation aufzubringen, zeigten sich manche hochrangige katholische Kirchenvertreter erbarmungslos. So erklärte der damalige Salzburger Erzbischof Georg Eder, Aids sei „eine Strafe Gottes für widernatürliches sexuelles Verhalten“.

Solche und ähnliche Wortmeldungen brachten in mir das Fass zum Überlaufen. Irgendwann hat es mir gereicht. Ich bekam eine Wut und einen Zorn auf die Kirche. Denn Schwulsein war für mich keine Entscheidung. Es gab keine Auswahlmöglichkeiten. Die Wut gab mir Energie. Ich habe mich gewehrt. Als ich beispielsweise aus der Kirche ausgetreten bin, hat der Pfarrer meine Eltern besucht und versucht, auf sie Druck auszuüben, damit ich den Schritt rückgängig mache. Ich habe das als bodenlose Frechheit empfunden. Ich habe den Pfarrer angerufen und ihm am Telefon deutlich meine Meinung gesagt. Meine Wut kann manchmal heftig ausfallen. Wenn bei Veranstaltungen oder Feiern katholische Priester andere Menschen über Sexualität und Genderthemen belehren wollen, kann es sein, dass ich sofort einschreite und energisch widerspreche. Zorn muss nicht immer etwas Schlechtes bedeuten. Viele Widerstandsbewegungen wie der Stonewall-Aufstand, Black Lives Matter und die Suffragetten sind aus Wut und Zorn heraus entstanden.

Hinter der Wut steckte ein tiefer Schmerz

Heute habe ich meinen Frieden gefunden. Ich habe meine Themen in jahrelanger Therapie aufgearbeitet. Das war kein einfacher Weg. Zunächst habe ich mir meinen Zorn auf das Katholische eingestanden. Wut und Zorn waren bei mir sekundäre Gefühle. In der Therapie ging es darum, dahinter zu blicken. Gezeigt hat sich ein tiefer innerer Schmerz. Es dauerte lange, meine innere Verwundung offen zu legen. Denn ich habe in meiner Kindheit und Jugend viele Schutzschichten aufgebaut, was viel Kraft kostete. Die Versuchung war groß, den Schmerz weiterhin zu unterdrücken und zu betäuben. Der Schmerz handelt davon, nicht gewollt, fehl am Platz zu sein und nirgendwo dazuzugehören. Wobei es nicht nur um mein Schwul-Sein, sondern auch um meine Behinderung ging. Wegen der Behinderung wurde ich in der Schule viel gemobbt. Es tut weh, diesen Schmerz zu fühlen. Ich habe damals viel geweint. Je mehr ich meinen Schmerz zuließ, umso besser ging es mir. Gleichzeitig habe ich gelernt, mich als queere Person selbst zu lieben. Ich bin nicht auf die Anerkennung von anderen Menschen oder Institutionen angewiesen. Heute suche ich mir mein Umfeld aus. Ein weiterer wichtiger Schritt war es, mich emotional abzugrenzen. Wenn beispielsweise im Fernsehen kirchliche Leute etwas erzählen, das mich aufregt, atme ich einmal tief durch und wechsle das Programm. Ich vermeide Situationen, die mich triggern könnten. Ich entscheide, ob ich in den Kampfmodus gehe. Als einmal der katholische Pfarrer bei einer Feier eine Moralpredigt hielt, habe ich in der Kirche Kopfhörer aufgesetzt und über das Handy Musik gehört.

Ich unterstütze queere Vereine und freue mich über queere Bewegungen wie Queer Glauben in Wien, die Metropolitan Community Church (MCC) in Wien, EvanQueer, Regenbogenpastoral, Queer Lounge, OutInChurch, Rainbow Catholics, queere Jüd*innen, queere Buddhist*innen und queere Muslim*innen etc. Ich finde es großartig, dass die altkatholische Kirche in Österreich eine Bischöfin hat. Zur katholischen Kirche: Die offiziellen Verlautbarungen sind heute netter als früher. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen inzwischen gesegnet werden. Trotzdem betont die katholische Lehre noch immer, dass gleichgeschlechtliche intime Handlungen „in sich nicht in Ordnung“ seien. Ich fordere, dass meine gleichgeschlechtliche Liebe und alle queeren Lebensrealitäten ohne Einschränkungen für gut empfunden werden. Auch müssen alle Diskriminierungen beendet werden. Gleichzeitig wünsche ich mir eine umfassende und glaubwürdige Entschuldigung für das Leid und die Verletzungen, die queeren Menschen zugefügt wurden und bis heute zugefügt werden.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.