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Ist eine Deeskalation noch möglich?

Anlass für diesen Artikel sind verschiedene Publikationen, allen voran jene von Nora Eckert 2023. In den letzten Jahren sind jedoch viele durchaus kontroverse Bücher erschienen. Genannt sei hier auch Till Randolf Amelung (2022), welcher versucht die anzusprechenden Dynamiken zu fassen. Fest steht: In den letzten Jahren hat sich der Ton gegenüber Trans immer weiter verschärft. Dabei werden hochemotional nicht nur Argumente ausgetauscht. Zuweilen werden von allen Seiten falsche und/oder unvollständige Informationen verwendet oder einfach etwas unterstellt. Dabei wird nicht nur seriöse sorgfältige redaktionelle Praxis über den Haufen geworfen, eigene ethische Prinzipien der des respektvollen Umganges miteinander kurzerhand entsorgt, sondern auch „verdeckte“ Kanäle absichtlich missbraucht und Menschen existentiell bedroht. Wobei, und das muss schon festgehalten werden, die jeweiligen sozialen Verankerungen und Machtpositionen da durchaus eine arge Schieflage zeigen.

Dabei ergeben sich seltsame und zuweilen seltsam hilflos anmutende Allianzen. Selbst emanzipierte und durchaus fortschrittliche Menschen rücken nicht nur in die Nähe von radikalen, populistischen und illiberalen Fraktionen. Eine seltsame spannungsgeladene Melange ergibt sich gerade in einer Atmosphäre zunehmender Repressionen. Da wundert es nicht, dass die inzwischen arg in Bedrängnis geratenen, nahezu hilflosen Konservativen, eben weil sie ihre christlich-sozialen Fundamente längst entsorgt haben, in das rechtsextreme Horn blasen und damit in der Verfassung verankerte Grundrechte und allgemeine Menschenrechte in Frage stellen und auf Menschenfang gehen.

Dabei gibt es berechtigte Einwände und Befürchtungen, die es durchaus wert sind, ernsthaft diskutiert zu werden. So das Rapid Onset Gender Dysphoria Phänomen, eine rasch auftretende Geschlechtsunstimmigkeit, ein Teil des Mythos Mode, nur eines der Mythen auf die weiter unten eingegangen wird, welches wohl keine der Seiten alleine lösen kann und eine Zusammenarbeit erfordert.

Ja, es geht um was. Nur worum es geht, wird meistens durch emotionales Gekreische überlagert. Oftmals bleibt es bewusst unausgesprochen um bestimmte heikle (Stand)Punkte, bei denen Gefahr besteht zu verlieren, zu schützen. Es geht um inzwischen erworbene Rechte, es geht um immer noch nicht beseitigte Diskriminierungen und nicht zugestandene Gleichstellungen. Auf beiden Seiten! Darüber sollten wir aber dringend reden und im Gespräch bleiben, statt uns gegenseitig zu zerfleischen. Dieser Text ist auch ein Versuch dieses Gespräch wiederaufzunehmen. Nicht nur im Privaten, sondern als breiten Diskurs.

Selbstbestimmung: Ein problematischer Begriff.

Elisabeth Duval kritisiert den Begriff der Selbstbestimmung in „Nach Trans“ 2023 zurecht, denn er ist einfach missverständlich, suggeriert er doch eine freie Wahl. Eine freie Wahl und Selbstbestimmung, die nicht nur Trans in Wirklichkeit nicht haben. Da geht es sowohl um sexuelle Integrität, welche in der EU zuletzt durch die Ablehnung des „Nur ein Ja ist ein Ja“ Prinzips (02.2024) keinen umfassen Schutz zugestanden bekam, wie auch um die körperliche Integrität, welche durch die Ablehnung des Grundrechtes auf Abtreibung für Schwangere, einfach nicht zugestanden wird. Insofern erzeugt das diskutierte „Selbstbestimmungsgesetz“ für Trans zu nur zu verständlichen Ressentiments. Hier wäre eine stärkere Solidarisierung von Trans gefordert, welche im derzeitigen Minenfeld jedoch nicht einfacher geworden ist.

Ein weiterer sehr berechtigter Kritikpunkt an den Begriff „Selbstbestimmung“, wie auch an „Self-ID“, ist, dass es ja faktisch keine Selbstbestimmung für Trans gibt, da die persönlichen, sozialen und psychischen Kräfte keine freie Wahl lassen. Es ist eine Summe von gelernten Selbstzuschreibungen aus dem Sozialen wie auch von Fremdzuschreibungen, die irgendwann zu dieser „Entscheidung“, die keine ist, führen. Auch wenn es medizinisch und inhaltlich wohl nicht stimmt und Simone de Beauvoir sicher nichts mit Trans am Hut hatte: „On naît pas trans, on le devient“, also frei: „Es wird nicht als Trans geboren, es wird es“.

Nun haben wir diese vermeintliche Selbstbestimmung und sie hat ja geschichtlich mit diesem Wort ihre Berechtigung, denn das medizinische System konnte bislang keine Positivdiagnose stellen und behilft sich der Ausschlussdiagnostik und eben einer Selbsterklärung. (Mehr bei Mythos Ansteckung weiter unten.)

Und, Selbstbestimmung, ja das klingt schon auch ganz woke. Schön wäre es, könnten alle Menschen frei über ihre Sexualität, ihre Körper, letztlich über ihr Leben selbst bestimmen. Auch ein schöner Begriff macht es nicht wahrer. Vielleicht wäre aber ein Anknüpfungspunkt, gemeinsam mehr tatsächliche Selbstbestimmung zu erreichen? Wenn da nur nicht die Ressentiments gegen Transfrauen, die Kerle in Kleidern (zuletzt im Standard 07.02.24) und die immer wieder befürchtete, durch Kleider verdeckte, penisorientierte patriarchale feindliche Übernahme der Frauenbewegung durch Transfrauen. Niemand weiß heute genau, woher das kommt, aber diese Ängste sind nicht kleinzukriegen. Dabei sind wir doch höchstens 2%! Es muss wohl geschichtlich begründet sein. Ende des 19. Jh. etablierte sich der Mythos, dass „Kleiderwechsler*innen“ wenn nicht gar delinquent sind, so zumindest der Spionage nachgehen. Die Vergangenheit bleibt wohl Tochter der Zukunft. Wir stehen doch gerade jetzt wieder auf der Demo und rufen „Nie wieder ist jetzt!“. Interessant ist zu beobachten, welche Stimmen da fehlen und „eine Spaltung der Gesellschaft befürchten, da wir schon lange nicht mehr wüssten, was nun eigentlich links oder rechts ist.“ (Alice Schwarzer 22.01.2024) Ein gefährliches Spiel.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Punkte, die angesprochen, ausgesprochen und geklärt werden sollten. Ich nenne sie die Mythen um Trans. Hier eine Auswahl.

Mythos Mode

In der Lambda Nr. 180 (2/2020) finden sich die Daten zu einer vermeintlich zunehmenden Häufigkeit von Trans. Dabei handelt es sich aber um statistische Artefakte, da die Daten aus unterschiedlichen Kontexten stammen – nicht die Häufigkeit von Trans nahm zu, sondern nur ihre Sichtbarkeit. Denn zunächst stammten die Daten aus auf bestimmte Leistungen spezialisierte Kliniken, welche auf Grund des erschwerten Zuganges und der bestehenden Diskriminierung von Trans nur von vereinzelten Personen aufgesucht wurden. Diese nahmen ganz bestimmte medizinische Leistungen, meist auf eigene Kosten oder auf Grund akuter Selbstgefährdung, in Anspruch. Später stammten die Daten aus anderen Quellen, wie Trans-Ambulanzen, bis sie heute aus anonymen Internetbefragungen kommen, wie dem größten Survey aller Zeiten, dem U.S. Trans Survey 2022 mit 92.329 Befragten, dessen erste Ergebnisse seit Anfang Februar 2024 online sind. (Anonyme Internetbefragungen (CAWI) haben sich gerade in problematischen Feldern als besonders valide (gültig) erwiesen. Dazu gibt es mehrere wissenschaftliche Befunde, u.A. Liedl/Stelber 2023). Mit zunehmender Datenqualität und Datenverfügbarkeit haben sich dann auch die Schätzungen zum Vorkommen von Trans verbessert und eben erhöht.

Was zum Mythos Mode sicher beträchtlich beigetragen hat, ist der 2018 plötzlich auftretende Ansturm von Trans-Beratungsstellen und Trans-Ambulanzen durch Kinder und Jugendliche. Das Phänomen steht weiterhin unter Beobachtung der WHO und wird ROGD, Rapid Onset Gender Dysphoria, genannt. Betroffen sind hier fast nur Mädchen und junge Frauen. Damit hat sich das Verhältnis zwischen Frau zu Mann Trans (FtM) und Mann zu Frau Trans (MtF) statistisch drastisch von 1:1 auf 5:1 verschoben. Medizinische oder biologische Gründe können hier wohl mehrheitlich ausgeschlossen werden und damit liegt die Vermutung nahe, dass es sich hier um ganz konkrete soziale Auswirkung der Ungleichheit von Frauen handelt. Inzwischen hat sich aber rausgestellt, dass es RODG gar nicht gibt. Es bleibt bei 1:1. (Bauer et. al. 2021)

Mythos Ansteckung

Immer wieder begegnet uns die Vorstellung, Trans könnte übertragen werden. Doch bereits seit den 40er Jahren des 20. Jh., nach der Entdeckung der Hormone, gibt es die begründete Hypothese, dass es in der embryonalen Entwicklung zwei Hormonschübe gibt, wobei das Einsetzen oder Ausbleiben des zweiten Hormonschubs die Körperabbildung im Gehirn prägt. Aus guten Gründen kann diese Hypothese nicht endgültig überprüft werden. Neuere Hirnforschung weist allerdings auf Unterschiede hin. Dabei geht es allerdings nicht um die längst widerlegten und sexistischen Hypothesen zu unterschiedlichen neuronalen Vernetzungen zwischen den beiden Gehirnhälften, womit immer wieder Geschlechterdifferenzen begründet wurden, sondern um die Abbildung des Körpers. In den Altdorfer Empfehlungen wurde es 2011 so beschreiben: „…, dass Transsexualität eine angeborene Funktions- und Strukturbesonderheit des Gehirns darstellt, mit einer biologischen im Gehirn fest verankerten Kerngeschlechtsidentität.“

Letzen Endes wären die Ursachen für Trans auch nicht so wichtig, sondern, wie Dieter Schmutzer es bei der Veranstaltung „Anders ist (auch) normal! Missverständnis Transgender“ in der VHS am 29.11.2019 formulierte, der Umgang mit den Menschen und dem Phänomen sei entscheidend. Viele Trans machen sich dennoch auf die Suche nach einem Grund, weil Trans Sein wahrlich kein Spaß ist. Kein*e Trans macht es aus Spaß. Und hier liegt eigentlich der Hauptwiderspruch zu einer sozialen Ansteckung. Der Weg, den Trans beschreiten, unabhängig davon ob jetzt die Personenstandsänderung erleichtert wird, bleibt sehr mühevoll und meist unglaublich lang.

Mythos Regretter

Der oben angesprochene U.S. Trans Survey 2022 zeigt, dass bei 98% der Befragten die Lebensqualität nach einer Hormontherapie gestiegen ist, und 97% durch eine geschlechtsanpassende Operation eine Steigerung der Lebensqualität erfahren. Wie sich auch in anderen Studien zeigt, liegt die Zahl der Regretters (Bereuenden) bei knapp über 1%. Hier finden sich sicher auch jene, welche eine Transition durchlaufen haben, obwohl sie nicht Trans waren. Auch bei noch so guter Aufklärung lassen sich diese Fälle leider nicht vermeiden. Hormone selbst machen jedoch nicht glücklich, es sei denn, es handelt sich um Dopamin. Dafür braucht es aber wirklich keine Transition.

Mythos Internet

Till Randolf Amelung schreibt, dass das Internet die Entwicklung bei Trans im „community building“ und in der Durchsetzung von Rechten beschleunigt hat. Diese steile These wird jedoch nicht belegt, denn die neuen Ursprünge eine „Transbewegung“ liegen vor dem Durchbruch des Internets. „The media is the message“ formulierte Marshall McLuhan und Internet stand ja allen Bevölkerungsgruppen zur Verfügung. Außerdem wird es der Vorarbeit vieler Menschen nicht gerecht, die diese Entwicklung erst ermöglichten. Dazu zählen die verschiedenen Frauenbewegungen und die LGB(TIN) Bewegung, welche maßgebliche Grundrechte und Menschenrechte durchsetzen. Leider ist ganz vieles noch nicht erreicht, wie oben unter Selbstbestimmung ausgeführt. Und es setzt auch immer wieder eine verständliche Müdigkeit nach Erreichtem ein. Es braucht aber weiterhin den Einsatz ALLER, vor allem der LGBTIN und der Frauenbewegung, um das Erreichte zu sichern und endlich Gleichstellung zu erreichen. Das Internet kann ein Werkzeug sein. Das Internet tut es aber nicht allein.

Weitere Mythen

Es gäbe noch eine ganze Reihe von Mythen, wie: Mythos Trans-Lobby, Mythos Kindeswohl (von „Konservativen“), Mythos Geschenk (Trans bekommen eh alle Kosten ersetzt), Mythos Canceling (Trans wollen die Kategorie „Frau“ auflösen), und sicher noch mehr. Auf Grund von Platzmangel musste in diesem Artikel eine Auswahl getroffen werden. Es ist an dieser Stelle wichtiger, einen Ausflug in die Geschichte zu machen. Leider erinnern markige Sprüche jüngst an längst vergangene Zeiten. Ja, dieses Zitat ist vielleicht überzogen, doch die Brandmauern scheinen wirklich nicht hoch zu sein und wir sind am Weg zurück.

„Die erhebliche Gefährdung … der Volksgesundheit durch die auch heute noch verhältnismäßig hohe Zahl der Abtreibungen, sowie die homosexuelle Betätigung einer nicht unerheblichen Schicht der Bevölkerung, in der eine der größten Gefahren für die Jugend liegt, erfordert mehr als bisher eine wirksame Bekämpfung dieser Volksseuchen“ (Geheimer Erlass zur Errichtung einer Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung, Berlin 10.10.1936)

Angriffe auf Trans sind aber keine Frage der politischen Farbe und vielleicht hat Alice Schwarzer etwas Richtiges aus den falschen Motiven gesagt: „…da wir schon lange nicht mehr wüssten, was nun eigentlich links oder rechts ist.“ Hier ist die Politik, vor allem die Linke, dringend gefordert, Farbe zu bekennen. Denn Bewegung ist möglich. Auch im Differenzfeminismus, siehe: „Annarosa Buttarelli und Max Simonetto im Gespräch“ (2022), auf bzw.weiterdenken.de.

Nie wieder ist jetzt, und wir müssen Klartext reden, auch wenn wir nicht einer Meinung sind, um weiterzukommen und gemeinsam Lösungen zu schaffen.

Von Mia Mara Willuhn

Soziologin in Wien und seit Beginn der 1990er Jahre Transaktivistin. Sie hat 1992 die Selbsthilfegruppe für Trans in der Rosa-Lila-Villa mitbegründet, wie auch den Verein TransvestitIn 1994.