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Erfüllende Sexualität im Alter

Als queerer Psychotherapeut ist es mir ein Anliegen, dass alle Menschen – unabhängig vom Alter – eine erfüllende Sexualität leben können. Ich bin felsenfest überzeugt, dass auch über 80-jährige Personen sexuelle Lust erfahren können, wenn sie das möchten. Doch leider ist Sexualität bei älteren Menschen in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. Hinzu kommen defizitär und negativ geprägte Bilder über das Alter. Auch in der queeren Community werden Schönheitsideale meist mit Jugendlichkeit assoziiert. Oft steht Jugend aber nicht nur für Schönheit, sondern auch für Produktivität, Leistungsfähigkeit, Tatkraft, Fitness und Sportlichkeit. Im Gegensatz dazu wird ein fortgeschrittenes Alter mit Hilfsbedürftigkeit, Schwach-Sein und Untätigkeit (im Ruhestand-Sein) gleichgesetzt. Ältere Personen gelten daher nicht mehr als sexuell begehrenswert. Solche Ansichten sind leider tief in unserer Gesellschaft verankert und halten sich hartnäckig. Dies zeigt sich unter anderem in der Berichterstattung in den Medien. So werden Berichte über Sexualität im Regelfall mit jungen und körperlich attraktiv aussehenden Menschen illustriert. Wird dagegen gelegentlich das Thema „Sexualität im Alter“ aufgegriffen, sind meistens alte Menschen zu sehen, wie sie sich zärtlich umarmen oder händchenhaltend auf einer Parkbank sitzen. Natürlich ist es schön, wenn Menschen auf diese Art ihre Zuneigung zueinander zeigen. Doch mit solchen Bildern wird ein Vorurteil bedient, wonach sich Sexualität bei älteren Menschen nur noch auf einfache zärtliche Aktivitäten beschränkt. 

Keine Angst vor dem Älterwerden 

Angesichts der defizitorientierten Vorstellungen darf es nicht wundern, wenn viele Menschen Angst vor dem Älterwerden haben. In unserer westlichen Konsumgesellschaft wird der Alterungsprozess möglichst lange hinausgezögert, wie die boomende Anti-Aging-Industrie zeigt. In Drogerien und im Internet werden zahlreiche Anti-Aging-Produkte verkauft. Viele Menschen unterziehen sich Schönheitsoperationen, machen Laserbehandlungen und Faltenunterspritzungen, um optisch jünger auszusehen. Die Anti-Aging-Industrie gehört zu den Wirtschaftszweigen mit den höchsten Wachstumsraten. Doch sind Falten, graue Haare und Altersflecken wirklich so schlimm? Wer älter wird und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen nicht akzeptiert, kann auch die Sexualität nicht in vollem Ausmaß genießen. Denn für eine erfüllende Sexualität ist eine gute Verbindung zum eigenen Körper notwendig. Außerdem hat eine erfüllende Sexualität weniger mit Quantität, sondern mit Qualität zu tun. Wer Sex ausschließlich als Mittel für die schnelle Triebabfuhr nutzt, wird langfristig nicht besonders glücklich werden. Bei einer erfüllenden Sexualität spielen Genussfähigkeit, Sinnlichkeit, die Wahrnehmung der eigenen Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen eine wichtige Rolle. Dazu ist es erforderlich, dass wir uns in unserem Körper wohlfühlen, auch wenn sich dieser im Laufe des Lebens verändert. 

Körperliche Veränderungen annehmen 

Beim Thema Sexualität im Alter kommt es viel auf unsere innere Einstellung an. Denn das wichtigste Sexualorgan befindet sich nicht zwischen den Beinen, sondern im Gehirn. Unsere sexuelle Erregung entsteht im Kopf. Unser Gehirn steuert unser Sexualverhalten und reagiert beispielsweise auf kleinste Berührungen. Ein komplexes Zusammenspiel von Nervenzellen und Botenstoffen führt dazu, dass unsere Reize und Eindrücke im Gehirn in sexuelle Lust übersetzt werden. Ob und wann wir sexuell erregt werden, hängt viel mit unseren Vorstellungen und Erfahrungen ab. Insofern lohnt es sich, unsere inneren Bilder über das Älterwerden zu hinterfragen: Fürchten wir uns davor? Sehen wir die körperlichen Veränderungen nur negativ? Oder können wir ihnen auch positive Seiten abgewinnen? Machen wir dazu ein Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, dass wir älter sind und vor einem Spiegel stehen. Sehen wir dann nur die Falten und wollen diese schnell wegbekommen? Oder können wir uns auch mit einem freundlichen und wohlwollenden Blick betrachten? Gibt es auch im Alter Körperstellen, die uns gefallen? 

Vielleicht betrachten wir nicht nur den Körper, sondern entwickeln einen ganzheitlichen Blick. Eventuell nehmen wir uns als Menschen wahr, die geliebt haben, die sich innerlich weiterentwickelt haben und die mehr oder weniger gelernt haben, mit den Höhenflügen und Tiefen des Lebens umzugehen. Wer sich damit schwer tut und vorwiegend eine defizitorientierte Sichtweise hat, kann dies ändern, falls der Wunsch danach besteht. Denn es ist möglich, Selbstakzeptanz und Selbstliebe zu lernen. Wobei Selbstannahme nicht bedeutet, eine rosarote Brille aufzusetzen, sondern es geht darum, dass wir uns in unserer Ganzheit sehen und uns mit allen Stärken und Schwächen annehmen. 

Zu einem realistischen Blick auf das Älterwerden gehört, dass Krankheiten und gesundheitliche Probleme zunehmen können. Ich beobachte, dass ältere Menschen wegen verschiedenster körperlicher Beschwerden zu Ärzt*innen gehen und gesund werden möchten, was zu begrüßen ist. Doch leider werden sexuelle Funktionsstörungen oft verschwiegen, weil Sexualität im fortgeschrittenen Alter ein gesellschaftliches Tabuthema ist. Ältere Personen sagen nicht selten, bei ihnen habe die Lust abgenommen. Manche haben bei bestimmten Formen der Sexualität Schmerzen. Doch in den meisten Fällen kann hier geholfen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass darüber offen mit Ärzt*innen und anderen Expert*innen gesprochen wird. 

Zu den häufigsten Herausforderungen im Alter gehören vaginale Trockenheit und erektile Dysfunktion. Vaginale Trockenheit tritt häufig in den Wechseljahren auf und führt dazu, dass der Geschlechtsverkehr besonders schmerzhaft ist. Der Grund dafür ist meist ein Östrogenmangel. Dafür gibt es vielfältige Behandlungsmöglichkeiten. Bitte nicht schämen, sondern darüber mit Ärzt*innen und Expert*innen sprechen. Auch die erektile Dysfunktion ist gut behandelbar. Von einer erektilen Dysfunktion wird gesprochen, wenn über einen längeren Zeitraum und trotz mehrerer Versuche keine ausreichende Erektion des Penis möglich ist. Dies kann im fortgeschrittenen Lebensalter häufig passieren. Auch hier gilt: Die Scham ablegen und sich behandeln lassen. Denn die Medizin hat sich weiterentwickelt und bietet auch bei erektiler Dysfunktion einiges an. 

Kreativ und flexibel werden

Je älter wir werden, umso wichtiger ist es, dass wir fähig werden, uns auf neue Gegebenheiten anpassen, aber gleichzeitig kreativ und flexibel bleiben. Mit Anpassungsfähigkeit ist nicht gemeint, dass wir im Alter alles passiv hinnehmen und langweiligen Sex haben, sondern Anpassungsfähigkeit bedeutet, mit Kreativität und Flexibilität auf körperliche Veränderungen zu reagieren. Es ist unsere Entscheidung, ob wir im Alter ein langweiliges oder aufregendes Sexualleben führen. Kreativität heißt bei der Sexualität, alte Gewohnheiten zu verlassen und neue Spielarten auszuprobieren. Sexualität kann wesentlich mehr sein als ein Geschlechtsverkehr oder Orgasmus. Es hängt von uns und unseren Spielpartner*innen ab, was wir daraus machen. Bitte der Phantasie nicht zu viele und enge Grenzen setzen. Auch kann es helfen, immer wieder mit uns alleine zu spielen, um die eigenen Bedürfnisse und Genüsse besser wahrzunehmen. 

Wer frischen Schwung im Sex- und Liebesleben braucht, kann auch Sextoys wie Vibratoren, Dildos und Liebeskugeln verwenden. Für Vulva und Vagina sind verschiedene Toys wie Auflegevibratoren, Mini-Vibratoren, Rabbit-Vibratoren, G-Punkt-Vibratoren, Dildos, leichte und schwere Liebeskugeln erhältlich. Für Penis, Prostata und Po stehen ebenfalls zahlreiche Produkte zur Auswahl. Prostata-Massagegeräte stimulieren beispielsweise in verschiedenen Stufen den P-Punkt. Prostata-Orgasmen können besonders intensiv sein und lange anhalten. Die entsprechenden Geräte werden mit Akku betrieben und haben lange Laufzeiten. Auch ein Beckenbodentraining und andere Übungen können zu einem genussvollen Sexualleben beitragen. Bei allem gilt, einfach spielerisch ausprobieren und wahrnehmen, was uns und unserem Körper gut tut und darüber ohne Scham mit unseren Spiel-Partner*innen sprechen.  

Erfüllende Sexualität bedeutet, frei zu werden von herkömmlichen Zwängen und Rollenbildern. Der beste Sex fängt dann an, wenn wir den Leistungsstress, den Performance-Druck und den Stress über unser Aussehen ablegen und einfach genießen können. Wir können schon in jungen Jahren beginnen, dies zu lernen.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.