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Mens sana in corpore sano

Eine Reprise

Das mit dem gesunden Körper ist so eine Sache. Wie ich bereits im Auftakt in der letzten Ausgabe anklingen ließ, kann auch ein mit Hilfe ärztlicher Kunst (wieder)hergestellter Körper ein gesunder Körper sein. Gesundheit ist prinzipiell ein dehnbarer und zuweilen dogma­tischer Begriff. Im Idealfall decken sich inneres und äußeres Bild vom eigenen Körper und ermöglichen einen unbeschwerten Umgang, doch es kommt im großen Maße darauf an, wie Mensch und Gesellschaft „Gesundheit“ sehen. Denn behindert ist, wer behindert wird. Und wir Trans können uns dabei auch ganz schön selbst im Weg stehen.

Es geht dabei um Entfremdung auf vielen Ebenen durch eine dominante Gesellschaft und die Wiederaneignung der eigenen Kultur, hier des eigenen Körpers.

Medizinische Entfremdung

Nachdem Trans „Role Models“ über Jahrzehnte Vorurteile und Ängste der Ärzteschaft zerrstreut und unbezahlt zu deren Weiterbildung beigetragen haben, ist die Versorgungssituation für Trans deutlich besser geworden. Trotzdem: Trans ist weiterhin ein medizinisches Problem. Nicht aus gesundheitlichen Gründen, sondern weil viele gesellschaftlichen Institutionen ihre Verantwortung einfach der Medizin (als vermeintlich unfehlbare Naturwissenschaft) delegieren. Vor allem die Rechts­institutionen, welche ihrer eigenen Verantwortung auf Mediziner*innen übertragen und diese dann schützen, stellen Partikularinteressen vor die Grundrechte von Trans. So in der Gesundheitsversorgung und der Anerkennung ihres Personenstandes.

Dass mit dem ICD 11 endlich die psychiatrische Persönlichkeitsstörung entfällt, ist ein wichtiger Schritt. Gendervariantes Verhalten und Präferenzen bleiben jedoch explizit ausgeschlossen, womit Medizin prinzipiell binär bleibt. Dies führt nicht selten zu einer Entfremdung vom eigenen Körper, vom eigenen Spüren und vom eigenen Begehren. Manchmal kommt es durch „sture“ oder falsche Medikation und fehlende Beratungsgespräche sogar zu deren Verlust. Öfter ist es jedoch der Fall, dass die Transition durch die Medizin verschleppt und verzögert wird, was den Druck, vor allem auf junge Trans, extrem erhöht. Da werden Teile des eigenen Körpers sogar vom eigenen Empfinden ausgeschlossen, bis hin zur Selbstverstümmelung.

Kulturelle Entfremdung

Internet schön und gut. Es ist jedoch alles andere als der geschützte Bereich (Safe Space), den eigentlich das soziale Umfeld und Institutionen bieten sollten. Immerhin, so manch Trans hat damit auch Anhaltspunkte für das eigene Empfinden gefunden und ist in Kontakt mit anderen Trans gekommen. Denn draußen im Real Life gibt fast ausschließlich Endo-Cis. Egal ob Kirche, Kindergarten, Schule, Universität, Peer Groups, Ausbildung, Job, Familie. Was nicht in Endo-Cis passt, wird verschwiegen, versteckt oder umgedeutet, bemitleidet und sonst irgendwie tot gemacht. Es kann nicht sein, was nicht sein darf?

Durch fehlende Repräsentation, Geschichten und Vorbilder führt auch dies zur Entfremdung vom eigenen Körper. Ja, es gibt inzwischen auch queere Regenbogenkinderbücher. Doch welchen Kindern werden diese zur Verfügung gestellt?

Wirtschaftliche Entfremdung

Ca. 30% der Trans können nach dem Outing in ihrem Job bleiben. Doch die anderen 70%? Die Hilflosigkeit der Berufsberater*innen bei einer Umorientierung mündet dann in „Gehen Sie doch in den Kulturbereich, Kulturmanagement zum Beispiel. Bei ihren Kompetenzen?“ Besonders nach einem Outing können die Einkommensverluste zwischen 30 und 50% betragen, so eine Erhebung der schweizer Transgenderambulanz. Da schlägt dann besonders im niedrig qualifizierten Bereich der Gender Pay Gap zu. Nicht für die gleiche Arbeit, denn die kann hen ja nicht mehr machen. Hier geht es vordergründig um die Entfremdung von Mitschüler*innen, Kolleg*innen, dem Freundeskreis, die durch diese Einkommensverluste bei Menschen eintritt, aber auch um die Entfremdung vom eigenen Körper, da eine Selbstfürsorge auch materieller Ressourcen bedarf. Gerade dort, wo es keine Kostenübernahme gibt.

Trans Entfremdung

Argumente, die immer wieder bei Trans auftauchen, wenn es darum geht, die Situation von Trans nachhaltig zu verbessern, wobei ich mich hier explizit auf die österreichische Splendid Isolation beziehe. Identität durch (Selbst-)Diskriminierung?:

Trans sind einfach einzigartig!

Jedai Trans ist einfach höchst individuell, ganz speziell, als ob sie sich den Kategorien entzögen. Dass es hunderttausende Trans gibt, wird gerne ausgeblendet, da es die eigene Einzigartigkeit untergraben würde. Trans kann nicht verallgemeinert werden, ist zu heterogen, ist nicht mehrheitsfähig.

Trans haben keine eigene Kultur!

Das sind doch ganz andere, fremde Kulturen. Das ist alles nicht vergleichbar. Die haben doch eine spirituelle Basis, die es bei uns nicht mehr gibt (die wir Trans aber schon noch haben). Wir wollen doch keine eigenen Geschlechter mit einer eigenen Rollenzuteilung. Man kann Trans doch ihr echtes Mann/Frau-Sein nicht wieder durch Gender nehmen.

„Versachlichung von Trans“ durch wissenschaftliche Aufarbeitung

Das hilft uns doch nicht bei der Lösung aktueller Probleme. Das dauert ja viel zu lang. Das sind doch nur Zahlenspiele. Das ist doch alles lange her. Wir wollen doch nicht zurück in der Geschichte. Das gilt ja für Österreich nicht.

Es gibt immer wieder Hinweise auf eine lange „Geschichte“ von Trans, doch nur wenige Menschen und Institutionen verwahren dieses Wissen.

Hermann Baumanns Buch mit verwirrendem Titel „Das doppelte Geschlecht, Studien zur Bisexualität in Ritus und Mythos“ (1955) ist nur eines der Beispiele für weit versprengtes Wissen über Kulturen, in denen verschiedene Formen der Geschlechtlichkeit existier(t)en. Er führt auf der Weltkarte 47 Kulturen oder Regionen auf, in denen es einen rituellen (permanenten) Ge­schlechts­wechsel gab oder noch gibt. Auch Franz Ludwig von Neugebauers „Hermaphroditismus beim Menschen“ (1908) zählt zum verschollenen Wissen, auch in der Trans-Community.

Ich vermute, einer der Gründe für diese Trans Entfremdung in der hiesigen Trans Community ist, dass die anstehenden Aufgaben aus eigenem persönlichem Engagement einfach nicht zu stemmen sind. Ehrenamtlich ist es nicht möglich, alle notwendigen Fächer zu bedienen und dann auch noch in die Tiefe zu gehen. Da muss man schon auch wieder was abgeben. Es braucht da einfach Trans-Profis, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Starke Vorbehalte gibt es aber auch hier, da es als verwerflich gilt, als Trans mit dem Thema Trans auch noch Geld zu verdienen. „Da würde ja dem Kommerz Tür und Tor geöffnet!“

Da sind andere Länder schon weiter.

LGBTIQ* Jugendzentrum

In einigen Städten, in fast jeder deutschen Großstadt, gibt es inzwischen queere Jugendzentren mit professioneller Betreuung. In Berlin sind es drei, wie eine schnelle Recherche ergab. Die Schweiz hat keines, dafür ein von der Gesundheitsförderung Schweiz und dem Bundesamt für Sozialversicherung unterstütztes landesweites Netzwerk, die Milchjugend.

Ein kleiner Auszug der queeren Jugendzentren: „Fipp ev.“ Berlin (fippev.de), „Lambda“ Berlin (Lambda-bb.de), „Villa Lützow“ Berlin (kiez-zentrum-villa-lützow.de), „QueerUnity“ Hannover (queerunity.de), „La Vie“ Karlsruhe (stja.de/lavie),“Kuss41“ Hamburg (kuss41.de), „Equity“ Göttingen, „veilbunt“ Darmstadt (veilbunt.org), „Anyway“ Köln und „Sunrise“ Dortmund (Netzwerk: queere-Jugend-nrw.de)

Eine ausführliche Begründung der Notwendigkeit von queeren Jugendzentren findet sich im Forderungspapier der HOSI Wien Jugendgruppe vom 12.6.2020. Eine kleine Ergänzung: Die Bedeutung von queeren Jugendzentren ist gerade für Trans-Jugendliche durch ihr eigenes, in der Inkongruenz zum eigenen Körper begründetes Zeitgefühl enorm. Es ist wichtig, dass kompetente Trans-Mitarbeiter*innen zum Austausch und für Antworten vor Ort sind. Jugendliche haben ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche und entscheiden sich dann vielleicht doch auch wieder anders. Es muss ihnen aber ermöglicht werden, selbst ihre eigenen Erfahrungen zu sammeln und einen zumindest weniger entfremdeten Zugang zu ihrem Körper zu finden.

Trans-Peer_Beratungsstelle

Die bekannteste und wohl größte bestehende Peer-Beratungsstelle für Trans, Inter und Non Binary befindet sich mit „Queer Leben“ seit ein paar Jahren in Berlin.

Eine kleine, unvollständige Liste: „Queer Leben“ Berlin (queer-leben.de), Trans-inter-aktiv.org Zwickau, „Daqueerfem“ Darmstadt, Trans*Beratung Bremen (transberatung-bremen.de)

Auch bei der Beratung von Erwachsenen ist durch die wachsende Zahl von Anfragen eine Peer-Beratung auf ehrenamtlicher Basis nicht mehr machbar. Daraus ergibt sich ein Wildwuchs in den sozialen Netzwerken. Die bestehenden professionellen Beratungsstellen sind überfordert oder überlaufen und die meist ehrenamtlichen Beratungsangebote, sofern diese noch kontaktiert werden, sind längst an ihren Grenzen. Eine ehrenamtliche Peer-Beratung ist aus verschiedenen Gründen nicht ideal, da die Beratung dann nur auf trans-spezifische Themen reduziert werden muss und multiple Problemlagen nicht behandelt werden können. Diese hängen meist an Einzelnen. Es gibt kaum Beratungsteams, die sich austauschen und weiterbilden, und eine regelmäßige Supervision für die Aufarbeitung ist auch nicht vorhanden. Eine fundierte, professionelle, diskriminierungsfreie Trans-Peer-Beratungsstelle, die auch eng mit anderen Beratungsstellen vernetzt ist, ist dringend notwendig. Auch hier ist ein niedrigschwelliger „walk in“-Zugang unter der Woche erforderlich, damit sie als ständige Anlaufstelle fungieren kann. Eine Entfremdung kann nur durch professionelle Peers, also Trans-Berater*innen, vermieden werden, die mit den Lebenskontexten und Problemlagen von Trans vertraut sind.

Im Februar 2021 hat das DIW in Kooperation mit der Universität Bielefeld katastrophale Zahlen zum gesundheitlichen Risiko von LGBTIQ* auf Grund fehlender Integration und Versorgung veröffentlicht. Die Risiken für depressive Erkrankungen, Schlafstörungen und Burnout sind hier zwei- bis dreimal höher als bei Cis-Heteros. Besonders betroffen sind hier wieder Trans. 40% der Trans leiden unter Angststörungen. Viermal häufiger als Cis-Hetero.

Medizinische Versorgung ist überaus wichtig, jedoch nicht alles. Mindestens genauso wichtig ist es, einen erreichbaren und diskriminierungsfreien Zugang zu Unterstützung und Beratung zu ermöglichen. Die Repräsentation von Trans in der Gesellschaft durch professionelle Angebote im Sozialbereich tragen so zur Gesundheit von Trans bei.

(Anm.: Für die geschlechtsneutrale Schreibweise wurde das NoNa-System verwendet. https://geschlechtsneutralesdeutsch.com)

Von Mia Mara Willuhn

Soziologin in Wien und seit Beginn der 1990er Jahre Transaktivistin. Sie hat 1992 die Selbsthilfegruppe für Trans in der Rosa-Lila-Villa mitbegründet, wie auch den Verein TransvestitIn 1994.