Mensch muss die Herren Autokraten und Diktatoren immer wieder daran erinnern, dass die Außenpolitik-Zeiten, in denen die Herrschenden mit ihren Untertanen tun und lassen konnten, was sie wollten, der Vergangenheit angehören. Und keiner sollte sich mehr – wie es jüngst der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan tat – darauf berufen, dass „niemand das Recht habe, sich in interne Angelegenheiten einzumischen“.
Die Proteste rund um die, ohne die bislang übliche Wahl, erfolgte Rektoren-Ernennung der renommierten Istanbuler Bogaziçi- (oder Bosporus‑)Universität begannen Anfang Jänner. Studierende und Professor*innen hielten – und halten – diesen neuen Rektor – einen treuen AKP-Parteifreund Erdogans – für nicht legitimiert und außerdem fachlich ungeeignet. Mit kreativen Aktionen wollten sie die Entscheidung rückgängig machen.
Zu Beginn der Proteste versuchte Erdogan, „Terroristen“ für diese Demonstrationen verantwortlich zu machen – um damit die Bevölkerung gegen die Protestierenden aufzubringen. Ende Jänner kam dem Regime dann ein Bild in einer Ausstellung am Campus der Universität gerade recht, um die Kritik gegen die LGBTIQ*-Community zu richten. Das Bild zeigte die Große Moschee von Mekka, anstelle der Kaaba war in der Mitte Shahmaran zu sehen, ein mystisches Wesen aus Frau und Schlange, und die vier Ecken des Bildes schmückten die Fahnen der LGBTIQ*-Bewegung. Das genügte, um den Islam-Studien-Club der Bogaziçi-Universität (BISAK) zu folgender Aussage zu verleiten: „Wir werden niemals erlauben, dass islamische Werte innerhalb unserer Universität lächerlich gemacht werden. Wir akzeptieren nicht, dass diese Unmoral in künstlerischer Verkleidung legitimiert werden soll.“
Der Chef der türkischen Religionsbehörde, Ali Erbaş, nahm den Ball auf und verurteilte die „Attacke“ auf die Kaaba und auf „unsere islamischen Werte“, diese „Respektlosigkeit“ würde verfolgt werden. Er hatte schon im vergangenen Jahr mit homophoben Attacken auf sich aufmerksam gemacht, indem er z. B. meinte, Homosexualität verursache Krankheiten und zersetze Familien…
Der Chef der Istanbuler Staatsanwaltschaft stimmte in den Chor der selbsternannten Moral- und Werte-Verteidiger ein und kündigte wegen der „Beleidigung religiöser Werte, an die ein Teil der Gesellschaft glaubt“ eine Untersuchung gegen den Vorfall an. Kurz danach wurden vier Student$innen verhaftet. Am Morgen des 30. Jänner twitterte dann Innenminister Süleyman Soylu: „Vier LGBT Perverse wurden wegen Respektlosigkeit gegenüber der Kaaba … verhaftet.“ Der Innenminister machte übrigens auch mit der Aussage Schlagzeilen, „Universitäten sollten nicht demokratisch sein“, um damit die – gegen alle Usancen – stattgefundene Ernennung des neuen Rektors der Bogaziçi-Universität zu legitimieren… Ein wahrer Demokrat, dieser Herr Innenminister!
Am 1. Februar reihte sich Präsident Erdogan selbst in die Reihe der LGBTIQ*-feindlichen Twitter-User seiner AKP-Getreuen ein, und lobte die Jungen in seiner AK-Partei, dass sie „keine LGBT-Jugend“ seien. Die Proteste wurden größer, die Polizei-Gewalt eskalierte: 159 Protestierende wurden festgenommen.
Wenige Tage später legte Erdogan noch nach: In der Türkei sei „kein Platz für LGBT“, denn die Türkei sei „nationalistisch und moralisch“, nur „mit diesen Werten“ marschiere man in die Zukunft.
Sündenbock-Politik ist also angesagt, gespickt mit „traditionellen Werten“ und dem „Kampf gegen Unmoral“. Das soll wohl gegen die miserablen Umfragewerte der AKP helfen, und gegen die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der – auch aufgrund der Pandemie – schlechten sozialen und wirtschaftlichen Lage.
Diese Methode hat ja weltweit Anhänger$innen: Von Duterte auf den Philippinen über Bolsonaro in Brasilien und den mittlerweile zum Glück abgewählten Trump in den USA bis hin zu Orbán in unserem Nachbarland Ungarn (wo die Regierung gegen eine temporär aufgestellte regenbogenfarbene Freiheitsstatue als einem der Symbole der Black-Lives-Matter-Bewegung wetterte) oder dem auch nicht weit entfernten Polen mit seiner Recht- und Gerechtigkeitspartei PiS: Homophobie und Sexismus gehen Hand in Hand mit patriarchal-toxischer Männlichkeit, wenn es darum geht, traditionelle Werte herbeizuzitieren, um sich damit Mehrheiten bei Wahlen zu beschaffen.
Das Einzige was dagegen hilft, ist demokratisches Aufbegehren, ist Widerstand und Einfordern von Gerechtigkeit, gleichen Rechten sowie demokratischem Vorgehen. Und Sich-Einmischen: daheim und anderswo. Im Kleinen wie im Großen.
Die Zeiten der Nicht-Einmischung bei Menschenrechtsverletzungen sind auch in der internationalen Politik längst vorbei. Die EU sollte auch hier mehr Flagge zeigen: Die Pressemeldung der EU-Botschaft in Ankara vom 2. Februar 2021 enthält zwar all die richtigen Aussagen, sie kritisiert neben den Verhaftungen und dem Versammlungsverbot in den Bezirken rund um die Universität auch den „Hate speech“ hochrangiger Beamter und Politiker gegen LGBTIQ*-Studierende und fand das Schließen einer LGBTIQ*-Organisation „inak-zeptabel“. Vom für die Türkei zuständigen Kommissionsmitglied, dem Erweiterungskommissar Oliver Várhelyi, konnte ich jedoch rund um sein Treffen mit dem türkischen Außenminister Mevlut Cavusoglu am 21. Jänner oder jetzt nach der Eskalation kein Statement mit Kritik an den Menschenrechtsverletzungen und den immer wiederkehrenden Hassreden gegen die LGBTIQ*-Community finden. Hier sind klarere Worte angesagt – denn wie gesagt: Einmischung ist in diesem 21. Jahrhundert, in dem wir oftmals befürchten, die Uhren der Zeit würden zurückgedreht, Gebot der Stunde. Auch wenn die Herren Autokraten und Diktatoren uns anderes glauben machen wollen.
Quellen:
DuvaR.english vom 31.1.2021
FAZ vom 2.2.2021
NZZ vom 2.2.2021
Ö1 Mittagsjournal, 5.2.2021