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Was ich von Transpersonen gelernt habe

Dies ist ein Text ĂŒber eine Befreiung. Ich habe mich von den gesellschaftlichen und patriarchalen Zuschreibungen ĂŒber das Geschlecht gelöst. Leider habe ich viel zu lange daran festgehalten, obwohl ich schon als junger Mensch unter den vorgegebenen Geschlechterrollen gelitten habe. Zu verdanken habe ich die Befreiung in erster Linie Personen, die trans*, inter* und nicht-binĂ€r sind. Von ihnen habe ich viel gelernt. Das Loslassen fĂŒhlt sich gut an. Es ist eine große Erleichterung, nicht mehr gesellschaftlichen und traditionellen Vorgaben zu folgen, wie ich aufgrund meiner biologischen Geschlechtsmerkmale sein soll. Aufgewachsen bin ich in einem patriarchalen und konservativen Dorf in der österreichischen Provinz. Über Generationen hinweg wurden auch in meiner Familie und in meiner Umgebung bei MĂ€nnern patriarchale Rollenbilder und Kompetenzen wie StĂ€rke, HĂ€rte und Durchsetzungskraft gefördert. Von Frauen hingegen wurde Empathie, EinfĂŒhlungsvermögen und soziale FĂŒrsorge erwartet. Solche binĂ€ren Konstruktionen ĂŒber Geschlechter sind einfach nur dumm, rĂŒckstĂ€ndig und falsch. 

Leider wachsen wir noch immer in einer Gesellschaft auf, die davon ausgeht, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Hinzu kommt, dass Weiblichkeit und MĂ€nnlichkeit oft wie zwei gegensĂ€tzliche Pole gesehen werden. Doch eine solche BinaritĂ€t ist nicht haltbar. Es gibt mehr als zwei Geschlechter. Wenn wir immer nur von Frauen und MĂ€nnern sprechen, halten wir das binĂ€re System aufrecht. Wir können auch nicht vom Aussehen eines Menschen auf dessen Geschlecht schließen. Die Geschlechterforschung zeigt, wie unser Bild ĂŒber Geschlechter im Laufe der Jahrtausende sozial konstruiert und kulturell geprĂ€gt wurde. Ich bin mit biologischen Geschlechtsmerkmalen, die als mĂ€nnlich gelesen werden, geboren. Nur aufgrund dieser biologischen Merkmale wurde ich in ein bestimmtes Schema gepresst. Niemand hat mich gefragt, ob ich mich wohlfĂŒhle. Ich bekam als Kind zu Weihnachten eine kleine Eisenbahn und Spielautos. Meine Schwester hingegen sollte sich ĂŒber Puppen und eine PuppenkĂŒche freuen. Mein Vater ging arbeiten. Er verdiente das Geld und hatte in der Familie das Sagen. Meine Mutter kĂŒmmerte sich um den Haushalt. Ich bekam schon frĂŒh mit, dass Mann-Sein mit Privilegien verbunden ist. Weiße cis MĂ€nner geben in der Gesellschaft den Ton an, sie haben die Macht und den Zugang zum Geld. 

Als Schwuchtel verspottet 

Allerdings werden cis MĂ€nner nur akzeptiert, wenn sie traditionelle Geschlechtervorgaben erfĂŒllen. Es gibt dazu eine Begebenheit, die sich tief in mein GedĂ€chtnis eingebrannt hat. Als ich zwölf oder dreizehn Jahre alt war, machten eine Frau und ein Mann in meinem Heimatdorf Urlaub. Ich weiß nicht, ob es sich um ein Ehepaar handelte. Der Mann hatte ein feminines Verhalten. Das fĂŒhrte dazu, dass er von vielen Leuten im Dorf als „Warmer“ und „Schwuchtel“ verspottet wurde. Ob er tatsĂ€chlich schwul war, wusste niemand. Trotzdem ahmten nicht wenige junge MĂ€nner seine Stimme, seinen Gang und sein Verhalten nach. Sie machten es nicht öffentlich, sondern hinter vorgehaltener Hand, weil das Dorf die Einnahmen aus dem Tourismus brauchte. Auch als der Mann abgereist war, ging der Spott weiter. Auf Festen wurden immer wieder GehĂ€ssigkeiten ĂŒber „Warme“ erzĂ€hlt. Dann gab es ein anderes Schimpfwort, nĂ€mlich „Mannsweiber“. So wurden im Dorf Frauen, die besonders stark und selbstsicher auftraten, von weißen cis MĂ€nnern attackiert. Damit machten die MĂ€nner den Frauen unmissverstĂ€ndlich klar, dass sie untertĂ€nig bleiben sollen und die traditionelle Geschlechterhierarchie nicht in Frage stellen durften. Frauen, die sich wie MĂ€nner benahmen, hörten schnell: „Beruhige dich wieder!“ „Übertreib bloß nicht!“ 

Toxische MĂ€nnlichkeit 

Als mir als Jugendlicher bewusst wurde, wie gleichgeschlechtlich liebende Menschen in meiner Gegend verachtet wurden, hat fĂŒr mich ein einsamer Kampf begonnen. Ich fĂŒhlte mich zu MĂ€nnern hingezogen, wofĂŒr ich mich schĂ€mte. Ich wĂ€re am liebsten unsichtbar geworden. Ich habe mich zurĂŒckgezogen und mich in die Welt der BĂŒcher geflĂŒchtet. Ich war völlig im Patriarchat gefangen. Zuhause, im Kindergarten, in der Schule und in der Öffentlichkeit ĂŒberall wurden traditionelle Geschlechterrollen vermittelt. Ich hatte stĂ€ndig Angst, als unmĂ€nnlich zu gelten und damit als schwul enttarnt zu werden. 

Die MĂ€nnlichkeit, die von mir erwartet wurde, blieb nicht nur auf das Aussehen beschrĂ€nkt. Mir wurde beigebracht, dass MĂ€nner keine GefĂŒhle zeigen sollen. Schon alleine das Sprechen ĂŒber GefĂŒhle wie „ich habe Angst“ oder „ich bin traurig“ wurde als SchwĂ€che ausgelegt. Weinen durfte ich nicht, auch wenn ich vom Vater als Kind noch so hart verprĂŒgelt wurde. Falls MĂ€nner doch GefĂŒhle hatten, sollten sie diese hinunterschlucken. Eine andere Vorgabe war es, GefĂŒhle zu vergessen oder zu hoffen, dass sie mit der Zeit verschwinden. Ein solches Verhalten ist jedoch ungesund und kann zu psychischen Problemen fĂŒhren. Das einzige GefĂŒhl, das MĂ€nnern damals auf dem Land zugestanden wurde, war Wut. MĂ€nner sind oft wĂŒtend, um den dahinter liegenden emotionalen Schmerz oder eine tiefsitzende Angst zu verbergen. Wobei das Zeigen der Wut auch Grenzen hat. So wird MĂ€nnern vermittelt, dass sich die Wut nur in einem angemessenen Ausmaß entladen darf. 

Ausgrenzungsmechanismen in der schwulen Welt 

Als ich zum Studium nach Wien gezogen bin und meine ersten Erfahrungen in der schwulen Szene gemacht habe, war ich von der HĂ€rte und den Ausgrenzungsmechanismen in Teilen der schwulen Community entsetzt. Damals wie heute zĂ€hlt vorwiegend das Aussehen, wobei ein bestimmter MĂ€nnertyp prĂ€feriert wird (sportlich, jung, durchtrainiert). Waren es frĂŒher Bars und Lokale, so sind heute Dating-Apps populĂ€r. Dort sind auf Profilen von schwulen oder bisexuellen MĂ€nnern immer wieder SĂ€tze zu lesen wie „Tunten – keine Chance“, „Bitte keine Femininen“. Gesucht werden „richtige Kerle“ oder „maskuline Typen“. Dies zeigt, dass einige schwule MĂ€nner in ihrem Denken ĂŒber MĂ€nnlichkeit und SexualitĂ€t genauso in der patriarchalen Welt gefangen sind wie so manche heterosexuelle MĂ€nner. Solche MĂ€nner brauchen Sex oft, um eine BestĂ€tigung zu bekommen – um sich begehrenswert, attraktiv und potent zu fĂŒhlen. 

Unsere Vielfalt feiern 

Nachdem ich mich schon im Dorf ausgestoßen fĂŒhlte, wollte ich zumindest in der schwulen Welt dazu gehören. Ich ging ins Fitness-Center und versuchte, sportlich und mĂ€nnlich auszusehen, um begehrt zu werden. Doch irgendwann bin ich an einem Punkt angelangt, wo ich gesagt habe: Es ist genug. Ich akzeptiere mich so wie ich bin und renne nicht mehr irgendwelchen Geschlechtervorstellungen nach. Zu dieser Einsicht bin ich durch Begegnungen mit Personen, die trans*, inter* und nicht-binĂ€r sind, gelangt. Sie haben mir gezeigt, wie befreiend es ist, von traditionellen Geschlechterbildern loszulassen. Ich will mich nicht mehr anpassen. Ich kann schwach sein, wie ich will. Ich kann anziehen, was ich will. Ich darf GefĂŒhle zeigen und weinen. TatsĂ€chlich können wir die von der Gesellschaft aufgezwungenen Geschlechterrollen auch wieder ablegen. Dies ist eine Form von (Selbst-) Empowerment. Statt binĂ€ren Geschlechtervorgaben zu folgen, ist es sinnvoller, unsere Vielfalt zu leben und zu feiern.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.