Für ein neues Trans-Narrativ
Jetzt müssen wir auch noch Historiker*innen sein um die Geschichte neu zu erzählen. Sind wir nicht schon Ärzt*innen, die jahrelang die medizinischen Professionen als wissende Versuchskaninchen davon überzeigen mussten, dass medizinische Eingriffe uns gesünder machen? Mussten wir nicht Generationen von Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen in das Trans*-Sein einführen und ihnen beweisen, dass wir zum ganz natürlichen geschlechtlichen Spektrum gehören und eine vielleicht oft ganz banale Sexualität haben? Mussten wir nicht allen Psychiater*innen beweisen, dass Trans eben keine schwere mentale Erkrankung ist und wir keine Medikamente, physikalische Behandlungen oder Psychotherapie brauchen nur, weil wir trans sind? Mussten wir nicht schon zu oft Jurist*innen in Verfahren lotsen? Mussten wir nicht schon zu lange in unserem Alltag unter Beweis stellen, dass wir auch nur ganz normale Menschen sind? Und jetzt auch noch diese Reihe von Zufallsfunden, Fragmenten und Erinnerungen (Halbwachs 1985) welche nur unter unseren heutigen Bezugsrahmen rekonstruiert werden können. Wir sind genötigt uns zu erklären, anderen zu erklären. Denn wir sind schuldig geboren.
Dieser Text erneuert anlässlich ihres 50. Jahrestages eine Anklage, welche mit der Rede der Transaktivistin Silvia Rivera am 24. Juni 1973 bei der New Yorker Pride auf dem Washington Square erstmals (auch auf Grund des Ausschlusses von Trans* aus der Gay Liberation Front) formuliert wurde. Diese Ausgrenzung innerhalb der LGBTIQ+, welche sich vor über 50 Jahren von den USA nach Europa ausbreitete ist bis heute nicht überwunden. Es hat sich etwas verändert, aber nicht viel. Wir erleben eine breitere Unterstützung von Frauen und es gibt inzwischen Trans-Institutionen. Daher richtet sich diese vorwiegend an die bevormundenden meist schwulen cis-Männer (Eli Erlick 2023), welche die Pride und die ganze Bewegung an sich gerissen haben, schöner formuliert, die Schirmherrschaft übernommen haben, obwohl diese weder ihnen gehört und sie gar nichts dafürkönnen, dass es die Pride überhaupt gibt. Dazu später. Zunächst ein frei übersetzter Auszug aus der Rede, welche unter ihrem Titel im Netz zu finden ist, wenn frau weiß, dass es diese gibt.
Ihr seid besser alle schön ruhig
(Y’all better quiet down! Rivera 1973)
„… Aber, tut ihr irgendwas für mich? Nein, ihr sagt mir ich soll gehen und meinen Schwanz zwischen meinen Beinen verstecken. Ich lasse mir diese Scheiße nicht mehr bieten. Ich wurde geschlagen. Meine Nase wurde mir gebrochen. Ich wurde ins Gefängnis geworfen. Ich habe meinen Job verloren. Ich habe meine Wohnung für die Gay Liberation verloren und ihr alle behandelt mich so? Was verdammt nochmal stimmt mit euch allen nicht? Denkt darüber nach! …“
Gleichzeitig enthält dieser Text auch ganz im Sinne Riveras mehrere Aufforderungen. Eine ist es aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und sich aktiv um Solidarität (zumindest) zu bemühen, den am Ende ihrer Rede ruft sie mit „Gay Power!“, und wir wären damals alle gay gewesen, zur Solidarität auf. Sonst wird es mit dem „gemeinsamen“ Aufstieg / Sichtbar werden („Together we rise“, dem Motto der diesjährigen Regenbogenparade) leider schwierig.
Ein Schritt zurück
Schuldig geboren“, der Titel der Einleitung zum Anhang des „Der Arzt im Hause“ von Magnus Hirschfeld, welche undatiert ist, aber wohl aus dem Jahr 1927 stammt, löste einige Assoziationen aus. Dabei geht es weniger um Schuld, als um Scham im vermeintlichen Wissen um eine von außen zugeschriebenen Schuld, welche bis heute weitreichende Auswirkungen auf das Leben der Menschen hat. So glaubte Didier Eribon er habe keine Karriere gemacht, weil er schwul sei (Rückkehr nach Reims, 2016). Erschreckend ist auch, dass sich laut einer Studie, welche dieses Jahr anlässlich des Lesbian Visibility Day veröffentlicht wurde, 79% der britischen lesbischen Frauen zwischen 18 und 30 dafür schämen zu LGBT+ zu gehören (Just Like US 2023). Dass 88% der Trans* in dieser Altersgruppe Selbstmordgedanken haben, ist ja inzwischen Allgemeinwissen. (ebenda)
Magnus Hirschfeld schreibt schon damals, dass über dem Haupt der „Transvestiten“, wie wir damals genannt, wurden „… von Geburt an den Makel einer sogenannten ‚Schuld‘ wie ein Schwert hängt.“ Er beschreibt dann einen Fall als „Offenbarung und Geständnis eines unglücklichen Menschen, der unter der Geißel der Moral zusammengebrochen ist“. Es war nicht der einzige Fall, den er „begutachtete“ und dokumentierte: „Wie erstaunt waren wir, als wir dem ersten Transvestiten begegneten, dem später so viele hunderte folgten.“ Weitere Fallbeschreibungen finden sich bereits in: Die Transvestiten, Hirschfeld 1925. Er beklagte jedenfalls schon damals „… das Heer der alteingewurzelten Meinungen…“ und „… jene blinde, urteilslose Weitergabe oft mittelalterlicher Gedankengänge von Geschlecht zu Geschlecht.“ Diese „… stand drohend und verachtungsvoll am Wege“. Oft braucht es „bei Betätigung dieser ihrer Naturanlage… für dessen Vorhandensein sie in keiner Weise verantwortlich gemacht werden konnten…“ keiner Schweren Strafe für das „öffentliche Ärgernis“. Verachtung reicht schon aus.
Das Archiv des Instituts wurde am 6. Mai 1933 zerstört, die Institutsbibliothek landete im Feuer der Bücherverbrennung. So sind allein die vorher publizierten Fälle dokumentiert erhalten.
Ein Schritt zur Seite
Als schuldig geboren werden auch die Kinder der Täter*innen des NS-Regimes in Peter Sichrovsky’s Buch bezeichnet. Auch wenn einige wenige, die heute in Wien leben, mit der an die Kinder aller übertragen Kollektivschuld aufgewachsen sind, die meisten wuchsen hier ja mit dem Opfermythos auf, hat Hannah Ahrend sich zurecht gegen die Kollektivschuld gestellt, denn wo alle schuldig (oder unschuldig) sind ist niemand schuldig (oder unschuldig). Es kann nur um persönliche Verantwortung gehen. (Ahrend 1991) Doch warum dieser Schritt zur Seite. Zum einen hat die NS-Zeit einen deutlichen Bruch in allen deutschsprachigen Emanzipationsbewegungen bedeutet, zum anderen gibt es eine große Gemeinsamkeit zwischen den Gruppen, welche vermeintlich Schuld auf sich geladen haben: Das Schweigen. Zum Teil wurde diese Zeit nur „akademisch“ aufgearbeitet, was wichtig war. Erst jetzt, zwei Generationen später kommt es zu einer emotionalen Aufarbeitung und viel mehr Details treten zu Tage, wie zuletzt die Lynchjustiz in Schwarzau im Gebirge 1945. Dieses Schweigen aufzubrechen ist in jeder Hinsicht wichtig, denn: „Nicht zu wissen, was vor der eigenen Geburt geschehen ist, heißt immer ein Kind zu bleiben.“ (Cicero) Viel Ungewusstes wird über Generationen durch Schweigen weitergegeben, was sehr spät Anlass zur Recherche gibt. Das Schweigen hat jedenfalls Folgen, denn wie es Gunter Schmid mal formulierte: „Die Vergangenheit ist die Tochter der Zukunft“. Unabhängig von dem was in der NS-Zeit passiert ist oder in der Geschichte der LGBTIQ+-Bewegung vorkam. Das Gespräch sollte auf jeden Fall von allen Seiten gesucht und ein respektvoller Umgang gefunden werden. Denn: „Wenn Menschen in Kategorien von mehr oder weniger „wertvoll“ eingeteilt werden, wenn bestimmte Opfergruppen gar als weniger „wertvoll“ als andere angesehen werden, dann bedeutet das am Ende nur eins: Dass die nationalsozialistische Ideologie weiterlebt.“ (Rosette Katz: Rede im deutschen Bundestag 2023 anlässlich der Gedenkfeier zur Befreiung von Auschwitz)
Verschweigen und Auslöschung
Als wir uns in den 90er Jahren auf die Suche nach Quellen machten, war auch unser erster Weg jener in die „Völkerkunde“, da wir dort in ehemaligen oder weit entfernten Kulturen am ehesten Spuren von Trans zu finden hofften. Wir hätten nicht nach Indien gehen müssen, liegen die Spuren doch z.B. in Neapel vor der Nase. Die Feminelli waren früher hoch angesehen, hatten einen hohen sozialen Status und waren integraler Bestandteil von Zeremonien. Sie waren Glücksbringer und sollten Neugeborene im Arm halten. Die Kultur hat sich geändert. Wie in anderen Kulturen erlebten die Feminelli einen sozialen Abstieg und leben heute zumeist von der Prostitution. (Atlas, 2010) Was Österreich betrifft, gibt es sehr wenig Quellen. Inzwischen sind einige (altmodische) Bücher, zum Teil in den USA, als Reprint erschienen. Und es tauchen auch immer wieder Fragmente der Geschichte auf. Manches war lange Verschollen und kam dann über Kartons von Flohmärkten wieder zum Vorschein, so die Sammlung Sébastien Lifshitz, oder Photographien aus der Casa Susanna (Chevalier D’Eon Resort) aus den 50er Jahren und auch verschollen Geglaubtes, wie die Photographien des Magnus-Hirschfelds-Institut. Neben der großen Auslöschung der NS-Zeit gibt es bis heute Bestrebungen, Dokumente, Photographien und Befunde zu negieren, zu unterdrücken, oder abzuwerten. Dabei wird gerade in den Geschichtswissenschaften immer wieder argumentiert, es gäbe keine Beweise und/oder die Person hätte sich nie klar geäußert. Bei weit zurückliegenden archäologischen Funden wird meist sehr konservativ und einseitig (männlich, zumindest binär) bewertet. Ein kurioser Fall betrifft die chromosomale Bestimmung eines Skelettes mit XXY Karyotyp, welcher in der Medizin als „Klinefelter-Syndrom“ bezeichnet wird und heute als eine mögliche Variante von Intergeschlechtlichkeit gilt. Die Erstautorin Ulla Moilanen schrieb in der Studie von einer nicht-binären Person, einer mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eindeutig männlich/weiblich gelesenen Person, was ihr gleich die Kritik des Faches einbrachte sie würde eine unbeweisbare Behauptung aufstellen. Dass die dazugehörenden Grabfunde nicht zu einer eindeutig weiblichen Person passten, überzeugte die Expert*innn nicht. Diese waren wohl mit einem nicht binären oder intergeschlechtlichen Skelett überfordert. Geschichtsglättung und Löschungen von Geschichte sind keine neue Erfindung. Schon immer wurden Funde in die eigene Theorie/Weltbild gepresst. Bei Geschlechtsinkongruenz jeder Art ist diese Löschung jedoch sehr virulent.
Trans-Narrativ
Es gibt ein paar Spurensuchende, wie zum Beispiel Zavier Nunn oder Eli Erlick und wohl noch mehr, es bleibt jedoch noch viel zu tun um die großen Lücken in der Trans-Geschichte zu füllen, vor allem was die regionale und nähere Vergangenheit betrifft. Das ist vor allem wichtig um der Auslöschung entgegen zu wirken und eine neues Narrativ bereit zu stellen und auch entgegen zu stellen. Dies ist auch eine Aufforderung an die junge Generation. Denn nein, unsere Gruppe in Wien in den 90ern war sicher nicht die erste, es gab bereits eine in Graz, die TSI. Und davor gab es sicher auch schon andere Initiativen. Narrative schaffen eine Form der Identität und wenn Torrey Peters in Detransition Baby (2021) als Reese beklagt keine „Eltern“ gehabt zu haben, mag dies nicht bei Jede*r unbedingt positive Gefühle auslösen „Eltern“ zu bekommen. Doch, wie Anna Hájková es in ihrer Magnus Hirschfeld Lecture formulierte, „Menschen ohne Geschichte sind Staub“ (2021).
Stonewall
Transgender-Personen und Sexarbeiter*innen wurden schon früher von der Polizei verfolgt, so im Compton 1966. Die Situation spitze sich im Stonewall Inn auch auf Grund des sehr gemischten Publikums 1969 zu. Es gibt unterschiedliche Berichte über die Ereignisse, welche die Stonewall-Unruhen auslösten. Susan Striker beschreibt Sylvia Rivera in „Transgender History“ (2017) als eine der Ersten, die eine Bierflasche warf, nachdem sie von einem Schlagstock der Polizei getroffen wurde, was die Menge in Rage gebracht haben soll. Sie selbst meinte in einem Interview, die hätte den zweite Molotov Cocktail geworfen (Rothberg, 2021). In Lillian Faderman „The Gay Revolution“ (2015) beschreiben Lucian Truscott und Howard Smith Marsha P. Johnson solle in extrem hohen Stöckelschuhen mit einem Sack voller Steine einem Polizeiauto die Frontscheibe eingeschlagen haben, was die Gewalt auslöste. Aber auch der Dragking Stormé DeLarverie soll auf Grund des ersten Steinwurfs die Unruhen ausgelöst haben. Laut Howard Smith soll Stormé nach ihrer Verhaftung und dem ersten Entkommen aus dem Polizeibus die Menge aufgefordert haben doch etwas zu tun.
Marsha P. Johnson (1945 – 1992)
Sie war eine Schwarze Gender-Nonconforming und brachte eine weibliche Geschlechtsidentität zum Ausdruck, bezeichnete sich aber eher als „queen“ oder „transvestite“. Sie war eine beliebte Figur in der Kunstszene, Mitglied in Andy Warhols Drag-Performance-Gruppe „Hot Peaches“ und trat in verschiedenen Dokumentarfilmen in Erscheinung. Sie wurde am 6. Juli 1992 tot im Hudson River aufgefunden. Ihr Tod wurde zunächst als Suizid eingestuft, was später in „ungeklärt“ geändert wurde.
Sylvia Rivera (1951 – 2002)
Sie wurde in eine Familie venezolanischer und puerto-ricanischer Abstammung geboren und mit 10 Jahren als Waise von der Großmutter verstoßen weil sie Makeup trug. Sie war fortan obdachlos und verdingte sich als Sexarbeiterin. Da sie sich stark mit der Gay Liberation Front identifizierte, bezeichnete sie sich lange Zeit als Gay, später bezeichnetet sie sich selbst als Transgender.
1970 gründeten Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera gemeinsam die Aktivistengruppe Street Transvestite Action Revolutionaries (STAR) um obdachlose Drag Queens und Trans* zu unterstützen. Der Verein begann in New York, hatte aber bald Ableger in anderen Städten. Rivera und Johnson verdienten Geld für den Verein durch Prostitution, um junge Obdachlose finanziell zu unterstützen und somit vor der Prostitution zu bewahren.
Im Mai 2019 wurde bekannt gegeben, dass Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera im Greenwich Village in der Nähe des Stonewall Clubs in New York City mit Denkmälern geehrt werden sollen. Der Bau hätte 2021 abgeschlossen sein sollen. Diese Denkmäler von Johnson und Rivera würden die weltweit ersten sein, die Trans*-Aktivisten ehren.
Stormé DeLarverie (1920 – 2014)
Stormé war Kind einer Mischehe und bekam nie eine Geburtsurkunde. Ihre Erscheinung wird als butch und gender-nonconforming beschreiben. Sie arbeitete als Showmasterin, musikalische Direktorin, Dragking, und Sänger. Sie setzte sich nach Stonewall verstärkt für die LGBT-Personen ein und galt als „Rosa Parks der US-amerikanischen LGBT-Gemeinschaft“. Sie lebte mehrere Jahrzehnte lang im New Yorker Chelsea Hotel und wurde dort bis zur Einweisung in Pflegeheime auf Grund von Demenz von Nachbar*innen versorgt. Bis zu ihrem Tod setzten sich Menschen für sie ein.
Auch deswegen
Es gibt immer wieder Fälle, wie zuletzt bei den Grammy‘s, bei denen ein*e Trans* davon ausgeht, die erste ihrer Art zu sein. Es kam postwendend der Einspruch von PinkNews: Wendy Carlos hätte bereits 1970 mit einem Moog gewonnen. Auch in vielen anderen Feldern gab es eine ganze Reihe Trans, welche auf Grund ihrer herausragenden Leistung ausgezeichnet wurden. Es wäre schon sehr cool, gäbe es auch mal eine Liste berühmter Trans*, mit der man durch die Zeit surfen könnte.
