Beim Thema „queeres Gedenken“ kommen mir die vielen queeren Menschen, die kein einfaches Leben hatten, in den Sinn. In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es einen Mann, der alleine in einer Wohnung lebte. Im Ort wurde behauptet, dass er schwul war. Wer mit 40 noch nicht verheiratet, machte sich verdächtig. Dieser Mann wurde nicht bedroht, sondern als bemitleidenswertes Wesen angesehen. Die meisten Menschen im Ort gingen ihm aus dem Weg, als ob er eine ansteckende Krankheit haben könnte. Ich habe mich oft gefragt, warum er nicht in eine Stadt gezogen ist. Der Mann, der den Horror der Nazi-Zeit und auch danach die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen miterlebt hat, ist schon lange tot. Wenn ich in der Gegend bin, habe ich an seinem Grab eine Kerze angezündet. Mittlerweile wurde das Grab aufgelöst.
Auch ich habe in meiner Jugend meine sexuelle Orientierung geheim gehalten. Ich stamme aus einem Dorf in der österreichischen Provinz und bin in einer Zeit aufgewachsen, als Homosexualität noch als Krankheit galt. Als ich merkte, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle, hatte ich nur einen Wunsch: Wie kann ich das ändern? Ich stellte mir bei der Selbstbefriedigung Frauen vor. Doch es half nichts. Eine große Scham überkam mich. Scham ist ein Gefühl, dass viele queere Menschen kennen. Scham steht an der Schnittstelle zwischen einer individuellen Person und der Gesellschaft. Wer sich schämt, fühlt sich klein und schwach. In meiner Kindheit und Jugend wurden gleichgeschlechtlich liebende Menschen in der österreichischen Provinz für pervers, abnormal und krank gehalten. Immer wieder habe ich mich damals gefragt, warum es ausgerechnet mich getroffen hat. Über Sexualität wurde in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, wenig gesprochen. Ich ging in eine öffentliche Schule, wo wir vom Religionslehrer – einem katholischer Priester – aufgeklärt wurden. Dieser nahm sich eine Stunde Zeit, um über Heterosex zu sprechen. Über Homosexualität, queeres Leben, Bisexualität, trans* Personen, inter* Personen verlor er kein Wort. Es war so, als ob es uns nicht geben würde.
Ständig auf der Hut sein
Ich fühlte mich in der Kindheit und Jugend einsam. Immer wieder gab es Momente, in denen ich an Suizid dachte. Meine Scham führte dazu, dass ich mit keiner Person darüber reden konnte. Gleichzeitig war es eine anstrengende Zeit. Ich musste ständig auf der Hut sein. Ich tat alles, um mich und meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich wollte nicht auffallen. Es durfte kein unüberlegtes Wort, das mich verdächtig machte, herausrutschen. Ich hatte solche Angst, entdeckt zu werden. Denn Schwul-Sein war damals auf dem Land mit Ausgrenzung und sozialer Isolation verbunden.
Es war eine Zeit, die sich junge Menschen heute schwer vorstellen können. Denn heute bekommen wir im Internet auch in abgelegenen Gegenden schnell alle gewünschten Informationen. Als ich aufwuchs, hatten wir mit ORF-1 und ORF-2 nur zwei Fernsehprogramme. Die Bücherei im Ort wurde von der katholischen Pfarre betrieben. Auch in der Buchhandlung in der nächsten Stadt gab es nichts über Schwule oder queeres Leben. Aus heutiger Sicht bin ich damals sicher depressiv gewesen. Selbst wenn ich meine Scham überwunden hätte, wäre es vermutlich schwer gewesen, Hilfe zu bekommen. In den Schulen auf dem Land waren keine Psycholog*innen tätig. Und zum Hausarzt hatte ich wenig Vertrauen, weil er im ganzen Ort bekannt war. Als ich 16 Jahre alt war, hatte ich einmal den Mut, in der nächstgelegenen Stadt in einer Trafik ein Hetero-Porno-Magazin zu kaufen. Es ist eine Szene, die ich nie vergesse. Der Trafikant wickelte das Magazin schnell in ein anderes Zeitungspapier ein, damit es die anderen Kund*innen nicht sehen konnten.
Der Enge entfliehen
Ich habe mich als Jugendlicher nicht nur geschämt, sondern ich habe mich gehasst. Ich wollte mit Schwulen nichts zu tun haben. Ich hätte damals alles gegeben, hetero zu werden. Queerer Selbsthass entsteht, wenn wir die durch die Gesellschaft erfahrene Diskriminierung verinnerlichen. Als Jugendlicher sah ich nur einen Ausweg: Ich musste mich in der Schule anstrengen, die Matura schaffen, um zum Studium nach Wien gehen zu können. Ich wollte weg – in die Anonymität der Großstadt. Es hat in Wien einige Zeit gedauert, bis ich mich in die schwule Community wagte und mich mit meinem Selbsthass auseinandersetzte.
In Wien habe ich als junger Erwachsener zunächst versucht, meiner Vergangenheit zu entfliehen. Ich wollte alles Belastende von früher verdrängen und vergessen. Dies ist ein zutiefst menschlicher Impuls. Doch die Vergangenheit hat mich immer wieder eingeholt. So gingen beispielsweise meine ersten queeren Beziehungen und Freund*innenschaften in die Brüche, weil ich mich schwer tat, Gefühle zu zeigen. Kein Wunder, schließlich habe ich mich ja als Jugendlicher immer unter Kontrolle gehalten. Als Erwachsener war ich gezwungen, mich der Vergangenheit zu stellen, um alte und destruktive Muster ablegen zu können. Es ist kein Zufall, dass ich jetzt als Psychotherapeut arbeite. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, in schwierigen und aussichtslosen Situationen zu sein. Gleichzeitig weiß ich, dass es möglich ist, sich vom negativen Ballast befreien und neue Wege gehen zu können. Das ist ein Akt des Empowerments.
Mir haben queere Identifikationsfiguren gefehlt
Wir queere Menschen wurden über Jahrhunderte für krank, abnormal, gefährlich und wertlos gehalten. Dies kann dazu führen, dass wir die Ausgrenzung, die wir durch die Gesellschaft erfahren haben, in die eigene Gedankenwelt übernehmen. Als Jugendlicher habe ich mich oft wertlos gefühlt. Das habe ich kompensiert, indem ich in der Schule besonders viel leistete. Heute weiß ich, dass ich nicht mehr kompensieren muss. Von Menschen, die mich nicht akzeptieren, verabschiede ich mich. Queeren Selbsthass können wir überwinden, wenn wir uns selbst mit einer Haltung von Akzeptanz und Liebe begegnen. Als Jugendlicher haben mir queere Identifikationsfiguren gefehlt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich 1996 in Wien an der ersten Regenbogenparade teilgenommen habe. Ich war überrascht, dass wir doch so viele sind. Und es wurden im Laufe der Jahre immer mehr.
Um dem Gefühl der Scham, des Alleinseins und des Nicht-Dazugehörens entgegenzuwirken, kann es hilfreich sein, die historische Geschichte der LGBTIQ*-Bewegung kennenzulernen. Diese besteht nicht nur aus Ausgrenzungen und Stigmatisierungen, sondern enthält auch viele Aspekte, die empowern. Wir haben begonnen, uns zu wehren – wie 1969 die Stonewall Riots zeigen. Wir sind nicht passiv geblieben und haben nicht auf die Anerkennung der Mehrheitsgesellschaft gewartet, sondern wir haben uns organisiert und für unsere Anliegen gekämpft. Dieser Kampf ist nicht zu Ende. Wir sind eine Gemeinschaft, die auf eine reiche Geschichte des Empowerments aufbauen kann. Damit wird Scham („ich gehöre nicht dazu, ich bin nichts wert“) zu Stolz („LGBTIQ*-Personen haben eine reiche Geschichte und ich bin ein Teil davon“).