Kategorien
Kultur

tin*stories

Im Geschichtsunterricht und in Geschichtsbüchern geht es meist um weiße cis Männer. Auch historische Ereignisse werden vorwiegend aus dem Blickwinkel von weißen und akademischen cis Männern erzählt. Die Geschichten von queeren, trans, nichtbinären und inter Personen kommen hingegen nicht vor. Das bedeutet aber nicht, dass es diese Geschichten nicht gibt, wie dieser großartige und empfehlenswerte Sammelband zeigt. In dem Buch werden trans, inter, nicht-binäre Geschichte(n) seit 1900 veröffentlicht. Der Fokus liegt zwar auf Deutschland, doch es gibt immer wieder Berührungspunkte zu Österreich. In einem Beitrag werden beispielsweise die Lebensgeschichten von zwei trans Personen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankfurt am Main und in Wien erzählt. Konkret geht es um die trans Frau Ernestine W., die im Jahr 1941 beim Amtsgericht Wien um eine Namensänderung ansuchte. Der zuständige Stadtmedizinalrat fragte bei den Nazis in Berlin nach, wie hier weiter vorzugehen sei. Ein anderer Beitrag beschäftigt sich mit dem Leben von Liddy Bacroff, die als Sexarbeiterin von den Nazis verfolgt wurde. Am 6. Jänner 1943 wurde sie im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Dieser Beitrag zeigt, dass in der queeren Geschichtsschreibung eine cis-schwule Sichtweise vorherrscht. Denn Liddy Bacroff wurde als Teil der Verfolgten-Gruppe der Homosexuellen vereinnahmt, was nicht in Ordnung ist. „Teil einer kritischen queeren Geschichtsschreibung muss demnach sein, dass den porträtierten Personen die Deutungshoheit über ihre Lebensrealitäten so weit wie möglich zurückgegeben wird, und diese weitergetragen und verstärkt wird“, betonen die Autor*innen. Hoffentlich erscheinen noch viele solche Bücher.

Joy Reißner/Orlando Meier-Brix (Hg.): tin*stories. Edition assemblage, Münster 2022.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.