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Queere Leidensgeschichten

Wer sich für queere Geschichte interessiert, muss dieses Buch lesen. Erstmals liegt ein umfassender Band über die Verfolgung von queeren Menschen in Wien während der NS-Zeit vor. Geschrieben hat es Andreas Brunner, Leiter des Forschungszentrums QWIEN. Für das Buch wurden alle Strafakten der Wiener Gerichte während der NS-Zeit ausgewertet. Herausgekommen ist, dass etwa 1400 Männer und 80 Frauen wegen gleichgeschlechtlicher Handlungen beschuldigt wurden. Über 100 Männer wurden in ein Konzentrationslager verschleppt. Von ihnen überlebten nicht einmal 30 Prozent. In diesem Buch erzählt Andreas Brunner die Lebens- und Leidensgeschichten von etwa 50 queeren Menschen, die in die Fänge der NS-Justiz geraten sind. Es sind Geschichten, die berühren und unter die Haut gehen. Die Aufgliederung nach den heutigen 23 Wiener Bezirken soll zeigen, dass in ganz Wien gleichgeschlechtlich liebende Menschen verfolgt wurden. Gleichzeitig erfahren die Leser*innen auch viel über die damals geheimen Treffpunkte von queeren Menschen. An keinem Ort Wiens wurden so viele Männer wegen homosexueller Kontakte verhaftet wie im Esterházybad in der Gumpendorfer Straße 59. Denn ein Kriminal-Oberassistent besuchte regelmäßig die Dampfkammer des Bades, wo er homosexuelle Männer auf frischer Tat ertappte und festnahm. In dem Buch werden auch die Geschichten von Frauen, die sich wegen lesbischer Handlungen vor Gericht verantworten mussten, erzählt. Der Anteil der verfolgten Frauen war aber deutlich geringer. Der Grund liegt darin, dass lesbische Sexualität „zumeist in privatem Rahmen stattfand, wohingegen sich Männer häufig an öffentlichen Orten trafen“, schreibt Andreas Brunner. Das Buch ist aufwendig illustriert und eine absolute Leseempfehlung.

Andreas Brunner: Als homosexuell verfolgt. Wiener Biografien aus der NS-Zeit. Mandelbaum Verlag, Wien 2023.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.