Falcon – ein Flaggschiff des Schwulenpornos
Pornographie war anders in den 70ern – eine Zeit kurz nach den Stonewall Riots, mit denen die LGBT-Bewegung erstmals Fahrt aufnahm und sich die neuen Freiheiten mit zunehmendem Selbstbewusstsein der Community verbanden; eine Zeit, als Pornos oft noch als Kunst gemeint waren und in ausgewählten Kinos gezeigt wurden – erst später entstanden die einschlägigen Sexkinos. Mit der Legalisierung der Pornographie im Zuge der sexuellen Revolution kam es bei den Schwulenpornos zum großen Aufbruch. Neue Labels schossen wie Pilze aus dem Boden. Oft war die Idee: Das kann ich auch!
In dieser Frühphase des Schwulenpornos tummelten sich mehrere Studios im üppigen Teich der neuen sexuellen Freiheiten – Falcon, Colt, Bijou, Catalina, Nova – es wurde viel ausprobiert (von Fisting über S/M bis hin zu Role Play; vom Südseestrand über Verliese und Swimmingpools bis hin zur Tankstelle in der Wüste); manches war erfolgreich; manches ging schief. Die Handlungen der Filme waren meist dürftig; manchmal wurde aber auch eine kleine Geschichte erzählt. Denn es war noch unklar, was der schwule Pornokonsument eigentlich sehen wollte.
Die Falcon Studios wurden 1971 von Chuck Holmes gegründet, und anfangs von drei Männern – Steven Scarborough, Dragqueen Chi Chi LaRue und John Rutherford – betrieben. Sie fungierten auch selbst am Set als Regisseure – etwas, das Chi Chi LaRue bis heute tut (wenn auch öfters unter ihren eigenen Labels). In den ersten Jahrzehnten entstanden legendäre Produktionen wie die ersten Teile der „The Other Side of Aspen“ Serie, „In Your Wildest Dreams“, „Style“, „Splash Shots“, „Spring Break“, „Spokes“ oder „The Pledge Masters“. In dieser Zeit überwogen kerlige Typen, die Falcon vor die Kamera brachte – der sog. „Clone Look“ war geboren, inspiriert vom Pornodarsteller Al Parker, ein Look mit Schnauzer, etwas längeren Haaren und haarigen Körpern, den Tausende von Schwulen in der Szene nachahmten und der zu seiner Zeit als erotisches Ideal galt. Zugleich schienen viele der Pornomodels dieser Phase den Comiczeichnungen von Tom of Finland entsprungen zu sein.
Mit Aufkommen der Videos, die man anders als davor auch im Privaten abspielen konnte, gab es Anfang der 1980er Jahre einen massiven Boost für die Pornostudios – es war so etwas wie die Goldgräberzeit, in der die Bäume in den Himmel zu wachsen schienen. Aus den Underground-Studios wurde so etwas wie eine schwule Pornoindustrie – die zwar kleiner war als Hollywood, aber durchaus analog funktionierte mit Stars, Produzenten und diversen Gay Video Awards. Doch dann ereignete sich mit der Aidskrise die große Katastrophe, die gerade unter Pornodarstellern viele Opfer forderte. Falcon reagierte lange nicht und produzierte bis in die frühen 1990er hinein Pornos ohne Kondom. Lange vorher schon hatten andere Studios umgeschwenkt und Kondome auf den Pornosets eingeführt, um ihre Models zu schützen. Falcon stellte sich lange stur und zog damit viel Kritik auf sich, bis es anderen Studios gleichtat.
Als Anfang der 2010er Jahre die Verlagerung des Pornovertriebs ins Internet als die große Hoffnung der Branchenzukunft verheißen und ein Versickern der DVD-Verkäufe prophezeit wurde, versuchten viele Labels die Online-Vermarktung ihrer Produktionen zu forcieren. Eine Goldgrube sieht anders aus; der Talerregen blieb aus. Die Falcon Studios hielten währenddessen an den DVD-Pressungen fest und rundeten ihr Portfolio durch Aufkaufen von Studios ab: Raging Stallion, Naked Sword und Hot House wurden in die Falcon Group integriert; unprofitable Unterlabels wie Mustang oder Jocks wurden stillgelegt. So konnte Falcon die schwierigen 2010er Jahre übertauchen.
Selbstverständlich findet ein Großteil der Bewerbung neuer Porno-Titel heute über das Internet statt. Herkömmliche Werbemöglichkeiten wie Pornomagazine oder schwule Videoguides haben einfach aufgrund schwindender Auflagenzahlen (oder gar Einstellung) keine ausreichende Breitenwirkung mehr. Internetauftritte erlauben heute ganz anders mit den Fans zu kommunizieren und sie bei der Stange zu halten. Man kann sie über Online-Umfragen einbinden und ihre geheimsten Wünsche abfragen, so dass diese in zukünftige Produktionen einfließen können, sobald die Nachfrage nach bestimmtem Kinky Content eine kritische Grenze übersteigt: Puppy Play, Point-of-View-Videography, Bareback Sex, Ledersex, Reality Shows, Businesstypen, Jungs in Strumpfhosen, Sex mit dem Doktor, dem Lehrer, dem Armeeausbildner, dem Stiefvater usw. – die Liste der möglichen Special Interests ist lang. Heutzutage sind große Labels wie Falcon Studios in der Lage, schnell auf neu herauskristallisierende Nachfragen zu reagieren.
Inzwischen ist Falcon einer der ganz großen Player in der schwulen Pornoindustrie geworden. Die Zeiten, als ein Pornoregisseur auch mal das Make-up seiner Models oder die Ausleuchtung des Filmsets übernehmen musste, sind lange vorbei. Es geht zu wie auf einem Hollywood-Filmset, denn es geht auch um sehr viel Geld. Den neueren Filmen aus den Falcon Studios sieht man an, dass die Produzenten viel Geld dafür in die Hand nehmen und in die Produktionen hineinpumpen. Das Ganze ist stylish und sehr Mainstream. Inzwischen braut sich dazu eine Gegenbewegung im schwulen Pornounderground zusammen: Kleine Newcomer auf dem Pornomarkt wie Czech Hunter in Europa oder neue Reihen wie Boy for Sale, Family Dick, Gaycest, Latin Leche, Funsize Boys oder Twink Top geben eine andere Richtung vor. Hier sind die Models oft nicht supermännlich, athletisch, muskulös, Hochglanz. Sie wirken oft, wie frisch von der Straße weggefangen und naturbelassen – natürlich ein detailliert geplanter Effekt. An einem neuen Label unter dem Falcon-Dach „Trailer Trash Boys“ – bei dem der ehemalige Pornostar Trenton Ducati Regie führt – ist zu erkennen, wie Falcon auf diese Konkurrenz reagieren will.
Das von Fans lange Zeit geforderte Barebacking wurde bei den Produktionen 2018 eingeführt – vergleichsweise spät in der Industrie. Dass alle Darsteller zeitnah vor den Shootings auf STDs getestet würden (wie die Disclaimer im Vorspann hervorheben), hat nicht alle überzeugt. Große Pornostars wie Darius Ferdynand oder der argentinische Latino-Macho Dio sind umgehend abgesprungen und haben sich kommentarlos „zur Ruhe“ gesetzt. Andere Darsteller sind inzwischen an ihre Stelle getreten, denen Sex ohne Kondom vor der Kamera kein Kopfzerbrechen bereitet.
Niemand kann sagen, wohin die Reise führt. Denn wie in all den bisherigen Jahrzehnten sind die Falcon Studios als ein von Menschen gemachtes Projekt und ein höchst profitables Wirtschaftsunternehmen eben auch ein Work-in-Progress. Die 400 und mehr Filme, auf die die Falcon Studios allein schon zurückblicken können, erlauben einen Blick auf einen Aspekt schwuler Kultur, der lange Zeit völlig ignoriert wurde. Sie reflektieren Entwicklungen, Trends, Modeerscheinungen in der schwulen Community, die sehr wohl auch Gegenstand einer schwulen Sexualgeschichte sein MÜSSEN. Nebenbei bemerkt: das Museum of Modern Art hat drei Filme des Pornoregisseurs Fred Halsted restaurieren lassen – deren Vorführung im Rahmen des Queer Film Festivals 2022 hat durchaus Beachtung gefunden. Die Falcon-Videos aus sechs Jahrzehnten warten noch auf die Entdeckung durch die Kunstwissenschaft.