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Schluss mit der Selbstoptimierung

In queeren Räumen sollen gesellschaftliche Schönheits- und Leistungsnormen keine Rolle spielen

Immer erfolgreicher, schöner, gesünder und besser: Wir leben in einer Welt mit einem enormen Konkurrenz- und Leistungsdruck. Auch queere Lebensrealitäten und Begegnungsräume sind davon betroffen. Auf Dating-Plattformen spielt beispielsweise das Aussehen eine nicht unerhebliche Rolle. Wer nicht jung und sportlich ist, hat geringere Chancen. Viele investieren daher in ihren Körper. Sie essen wenig und trainieren hart im Fitness-Center, um mithalten zu können. Menschen suchen oft Freund*innen und Partner*innen, um diese herzeigen zu können. Beim Austausch in sozialen Medien geht es im Regelfall darum, möglichst viel Zuspruch und Likes zu bekommen. Der Drang, sich ständig mit anderen zu vergleichen, kann unter Umständen zu Stress und zu psychischen Problemen führen, wie folgende Geschichte zeigt.

Eine Person hatte Schlaf- und Magenprobleme. Sie ging zur Hausärztin, doch diese konnte keine körperliche Ursache für die Beschwerden finden. Die Ärztin empfahl eine Psychotherapie. Die Person reagierte genervt, weil sie nichts von psychischen Problemen hören wollte. Nach langem Zögern entschied sie sich doch, es mit einer Therapie zu versuchen. Zunächst war es nicht einfach, Termine zu finden. Denn die Person hatte viel zu tun. Sie studierte, machte ein Praktikum und kümmerte sich viel um die Familie.

Das Beste geben wollen

Nach jeder Therapiestunde fragte die Person, ob sie alles richtig mache und ob der Therapeut mit ihr zufrieden sei. Sie versuche, meinte die Person, immer das Beste zu geben. Auch im Studium sei es ihr wichtig, hervorragende Noten zu haben. Ähnlich lief es im Sport. Die Person trainierte zwei Mal in der Woche im Fitnesscenter und ernährte sich bewusst. Sie las Bücher über Selbstoptimierung. Jeden Erfolg im Studium und jede Leistungssteigerung im Sport teilte sie in sozialen Medien mit. Die Person hatte viele Follower*innen, mit denen sie sich verglich.

Doch es gab auch Situationen, die alles andere als angenehm waren. Die Person erzählte von Alpträumen. Sie träumte einmal davon, dass sie das Studium nicht schaffen würde. Daraufhin würden sich die Eltern und Verwandten abwenden. Die Person wachte dann schweißgebadet auf und konnte nicht mehr weiterschlafen. Ein anderes Mal träumte die Person, dass sie zu einem queeren Clubbing gehen wollte. Doch sie wurde von Türsteher*innen nicht eingelassen. Stattdessen zogen viele gutaussehende Menschen vorbei und schafften es problemlos in den Club. Die Person hatte in dem Traum das Gefühl, nicht schön genug zu sein und versagt zu haben. Sie fühlte sich einsam und wachte auf.

Das Gefühl, einsam zu sein und nicht dazuzugehören, kannte die Person von früher. In der Psychotherapie fand sie einen Ort, wo sie in einem sicheren und wertschätzenden Rahmen darüber reden konnte. Dafür brauchte es Zeit. Denn die Person verdrängte vieles. Sie schilderte, wie sie im jugendlichen Alter entdeckte, queer und damit anders als die meisten Mitschüler*innen zu sein. Das Gefühl, anders und ausgestoßen zu sein, war für sie schrecklich. Sie tat alles, um dieses Gefühl zu vermeiden. In der Schule hatte sie immer wieder gehört, dass andere mit Schimpfwörtern wie „Du Schwuchtel“ oder „Du Lesbe“ gemobbt wurden. Sie fühlte sich einsam und hasste sich für ihr queer sein. Sie wollte auf keinen Fall auffallen. Doch dies verursachte Scham, Stress und Gefühle der Ohnmacht. Während sich andere in Drogen oder Alkohol flüchteten, war die Person überangepasst. Sie konzentrierte sich darauf, den Erwartungen von anderen zu entsprechen. Sie bekam Anerkennung, wenn sie viel leistete und sich anstrengte. Die Eltern lobten die Person, wenn sie von guten Noten erzählte. Auch in der Schule waren die Lehrer*innen mit ihr zufrieden.

Wir dürfen auch schwach sein. 

Die Person hatte den Weg der Überangepasstheit auch im erwachsenen Leben verinnerlicht. Sie wählte ein Studium, das gute Berufsaussichten versprach. Die Person hielt sich in queeren Lebensrealitäten und virtuellen Räumlichkeiten auf, in denen es um ein vermeintlich perfektes Aussehen ging. Dementsprechend schwierig war die Partner*innen-Suche. Auf queeren Dating-Plattformen wurden Menschen, die nicht sportlich aussahen, rasch aussortiert. Denn diese Menschen erinnerten die Person zu sehr an die eigenen vermeintlichen Defizite. Hatte sie dann doch jemanden gefunden, ging die Beziehung nach kurzer Zeit wieder in die Brüche, weil sich herausstellte, dass die Partner*innen Mängel aufwiesen. Die Person war mit sich selbst unzufrieden. Daher fand sie auch bei Partner*innen schnell Bereiche, die angeblich nicht in Ordnung waren. In der Psychotherapie ging es darum, dass sich die Person selbst akzeptierte. Sie lernte, dass scheinbare Schwächen in Ordnung sind. Langsam konnte die Person die jahrelang und unbewusst antrainierte Überangepasstheit ablegen. Sie entsprach nicht mehr den Erwartungen von anderen, sondern begann sich zu fragen, was ihr selbst guttut.

Eine Folge war, dass sie im Studium nicht mehr so hart zu sich selbst war. Früher ging es ihr darum, dass sie überall gute Leistungen hatte. Nun akzeptierte sie in Fächern, die sie weniger interessierten, mittelmäßige Noten. Die Person änderte auch die Freizeitaktivitäten. Sie ging weniger ins Fitnesscenter, sondern interessierte sich mehr für kulturelle Dinge und machte bei einer queeren Theatergruppe mit. Dort verliebte sie sich in einen Menschen, den sie früher aussortiert hätte, weil die Person nicht allzu sportlich war. Doch ihr gefiel der Mensch wegen der Herzlichkeit und Gemütlichkeit.

Wer immer nur angepasst ist und ständig zu den Gewinner*innen gehören will, verliert sich irgendwann selbst. Als Psychotherapeut wünsche ich mir möglichst viele queere Orte und Räumlichkeiten, wo wir einfach so sein können wie wir sind, wo wir uns mit unseren Stärken und Schwächen annehmen und wo keine Vergleiche angestellt werden. Doch leider leben wir in einer Gesellschaft, wo das Tun und Handeln oft automatisch gemessen und bewertet wird. Gleichzeitig steigen die gesellschaftlichen Erwartungen: Wir sollen heute im Beruf erfolgreich sein, interessante Hobbys haben, gut aussehen, die große Liebe finden, ein aufregendes Sexualleben führen, sich sozial engagieren, einen nachhaltigen Lebensstil pflegen und dann auch noch zufrieden sein. Doch das ist eine Überforderung. Im heutigen Neoliberalismus zählen Floskeln wie „Mach mehr aus dir“, „Lass dich nicht hängen“ und „Streng dich an, dann schaffst du es nach oben“. Doch das erzeugt enormen Druck.

Niemand ist perfekt

Verstärkt wird der Anpassungsdruck durch soziale Medien. Postet jemand von sich ein Foto, soll es besonders gut aussehen. Daher werden die Bilder vor der Veröffentlichung noch einmal bearbeitet. Sehen andere die vermeintlich makellosen Fotos, fühlen sie sich oft dazu gedrängt, ebenfalls perfekt zu sein. Somit kann es unter Umständen sinnvoll sein, alle Kontakte zu löschen, die uns das Gefühl geben, nicht gut genug zu sein. Ist sich jemand hinsichtlich des Körpers unsicher, sollte die Person in sozialen Medien keinen Menschen mit Fotos von einem makellosen Body folgen. Denn damit werden die eigenen Ängste und Unsicherheiten getriggert. Viel besser sind Kontakte und Personen, die gegen den Schönheitskult auftreten und die Inhalte posten, in denen nicht alles perfekt ist.

Ungesunder Konkurrenzdruck kann schnell zu einem Gegeneinander führen. Im Konkurrenzkampf haben Werte wie Empathie, Mitgefühl und Solidarität keinen Platz. Ich träume davon, dass queere Orte und Räumlichkeiten solidarisch sind. Solidarität bedeutet, dass Menschen nicht allein gelassen werden, dass wir füreinander da sind, dass wir einander helfen und unsere Sorgen und Nöte ernst nehmen. So erfahren wir Anerkennung, Rückhalt und Sicherheit. Dann brauchen wir uns nicht anzupassen, sondern wir können so sein, wie wir sind.

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.