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Kultur

Lustspiele der Männlichkeiten

Mit Seidl, Soldat und Beckermann durch die Viennale 2022

Viens je t’emmène (Nobody’s Hero)

ist ein typischer Guiraudie – und dann auch wieder nicht. Alle möglichen skurrilen Charaktere ziehen sich durch den Film, der in Clermont-Ferrand spielt. Nicht so groß die Stadt – 150.000 Einwohner*Innen, aber doch multikulturell genug, so dass das ganze kunterbunte Durcheinander irgendwie Sinn macht. Alain Guiraudie selbst sagt, dass er findet, dass schon genug Filme in Paris spielen, und dass er dem nicht auch noch verfallen müsse. Insofern atmet man auf, dass sein Personal nicht dauernd in Cafés bei intellektuell hochwertigen Gesprächen rumsitzt. Im Gegenteil hat man den Eindruck, dass die Leute permanent auf der Flucht sind; der gesuchte Terrorist sowieso – und dann auch wieder nicht, weil der, den die Zuschauer*In und auch die Filmnachbarschaft sogleich in Verdacht haben, drängt sich wiederholt bei seinem Gönner Médéric (Jean-Charles Clichet) – wider Willen – auf, sucht Unterschlupf bei ihm, fordert Verständnis; fast wirkt es wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Und dann ist da die lebenslustige Prostituierte Isadora (Noémie Lvovsky), von der der Protagonist nicht genug kriegen kann, obwohl er sich dadurch Ärger mit ihrem Mafia-Mann einhandelt. Aber der liebestolle Médéric macht sich wenig Sorgen um irgendetwas, will eigentlich nur ein wenig Abwechslung, weshalb er trotz anfänglicher Skepsis auch immer wieder Mitleid mit dem vermeintlichen Terroristen hat, dem er sogar Asyl in seiner Wohnung gewährt. Politisch korrekt ist das Ganze null, zumal die 50-jährige Protagonistin gleichsam klischeehaft nymphomanisch durchs Bild rauscht. Hält man ihren Ehemann für den Übeltäter, der sie Schläge verteilend auf den Strich schickt, erinnert jedoch die gegen Ende des Films mitgegebene Erklärung für die Sexarbeit seiner Frau an moralisch verklemmte 70er-Jahre-Rechtfertigungen für die Unterdrückung und Ausbeutung derselben. Das ist auch dem Regisseur selbst aufgefallen, der bereits bei einem öffentlichen Vorgespräch im Viennale Club anmerkte, dass er mit Rücksicht auf die derzeitige #MeToo-Stimmung einige noch doppeldeutigere Szenen rausgeschnitten habe. Und übrigens soll der Film auch irgendwie queer sein, was in der Handlung doch eher vage bleibt. Der eine oder andere wird wiederholt verdächtigt, schwul zu sein, und der eine oder andere behauptet, es zu sein, aber echte Hinweise gibt es darauf nicht, stehen doch die sexuellen Beziehungen zwischen Isadora und Médéric sowie zwischen Isadora und Ehemann bzw zwischen Isadora und allen möglichen Männern im Zentrum des Geschehens. Zugegeben ist der Klamauk äußerst unterhaltsam, wenn das gesamte Filmpersonal jederzeit auf der Flucht vor beziehungsweise Suche nach irgendjemandem zu sein scheint und es dabei permanent zu Missverständnissen, Verwechslungen und Verdächtigungen kommt. Mein Urteil, insgesamt ein netter Film, den man auf keinen Fall (zu) ernst nehmen sollte – und fast so gelungen wie „L’inconnu du lac“ (2013), nur dass letzterer erfrischend schwul ist und der neue ein wenig altherrenhaft verklemmt daherkommt.

Sparta
Sparta

Sparta

Apropos umstritten, Ulrich Seidl war heuer mit „Sparta“ dabei, der Film, der bei anderen Festivals gar nicht erst antreten durfte. In Wien hatte man sich entschieden, das Publikum für mündig genug zu halten, selbst beurteilen zu können, was es mit Thema, Handlung und Umsetzung auf sich hat und wie die Dinge zu bewerten sind. Schließlich ist es auch nicht gerade eine besondere Herausforderung, zu erkennen, dass der pädophile Ewald (von Georg Friedrich dargestellt) mit sich ringt, die Jungen, um deren sportliche Ertüchtigung er sich kümmert, zumindest nicht anzufassen, sich aber mit der Einrichtung des Clubs für vernachlässigte Kids in eine Situation begibt, in der er die Jugendlichen trotz aller bemühten Zurückhaltung für die Erfüllung seiner Sehnsüchte benutzt. Vielleicht ist allein die Verfilmung dieses Zwiespalts das Problem. Andererseits sind eben zwiespältige Themen Seidls Credo, so wie auch in der „Paradies“-Trilogie vor zehn Jahren, wo es im dritten Teil, „Hoffnung“, um pubertierende Mädchen geht, die in eine Abnehmanstalt gesteckt werden, wo auch nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Seidl geht wohl davon aus, dass diese unerfreulichen Themen und Handlungen in der Realität viel mehr Schaden anrichten, als ein Film es jemals kann und es keinen Sinn hat, so etwas nicht aufs filmische Tapet zu bringen. Wie auch immer, „Sparta“ ist jedenfalls laut Medienberichten unter zweifelhaften Umständen entstanden. Seidl selbst hat zu den Vorwürfen Stellung bezogen und erläutert, dass der Film keine pädophilen Sexszenen beinhalte, und kein Kind nackt oder in einer sexualisierten Situation oder Pose beziehungsweise auch in keinem sexualisierten Kontext gefilmt worden sei: „Solche Szenen waren niemals meine Intention und wurden auch nicht gedreht. Nie haben wir beim Dreh die Grenzen des ethisch und moralisch Gebotenen überschritten.“

Blind Date
Blind Date

Blind Date

Ein weiterer alter Bekannter der Viennale ist Jan Soldat, heuer mit zwei Kurzfilmen dabei gewesen, „Staging Death“ (Udo Kier-Hollywood-Todesfilmszenen in 8 Minuten-Länge aneinandergereiht) und „Blind Date“ (12 Minuten). Letzterer wurde mit dem „Erste Bank MehrWert-Filmpreis“ ausgezeichnet. Im Film treffen sich zwei Männer, die sich vorher noch nie begegnet sind, in der Wohnung des einen; nach dem Sex wird noch ein wenig geplaudert. Angeblich soll das Gezeigte „ein Exempel des modernen (schwulen) sexuellen Alltags“ sein (so heißt es im Viennale-Katalog). Ob das wirklich so ist, weiß eigentlich keiner, die einen behaupten es und haben den Regisseur offensichtlich davon überzeugt, die anderen bestreiten es vehement und betonen, Schwule seien genauso an dauerhaften monogamen Beziehungen interessiert, wie andere Bürger*Innen auch. So oder so, Jan Soldats Filme sind immer einen Festivalbesuch wert, weil er in seinen Werken intime Situationen dokumentiert, die man in den dargestellten (Sex-) Szenen eher nicht erwartet.

Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen

Die Literaturnobelpreisträgerin von 2004, Elfriede Jelinek, war nicht auf der Viennale-Filmgästeliste, aber sie ist 96 faszinierende Minuten lang Thema in Claudia Müllers Doku „Elfriede ­Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“. Der Film ist eine gelungene Auswahl an Archivmaterial, erzählt von Jelineks Kindheit als in fast allen Disziplinen talentiertes Wunder, das es schwer hat, den Ansprüchen der Mutter zu genügen. Ebenso umstritten ist Jelinek wohl bis heute in den Augen der Öffentlichkeit, die sie in ihrer hartnäckigen Beschäftigung mit Naziverbrechen oder patriarchalen Familienbanden – zum Beispiel „Burgtheater“, Drama von 1985, oder „Lust“, Roman von 1989 – bisweilen als Nestbeschmutzerin wahrnimmt.

Mutzenbacher
Mutzenbacher

Mutzenbacher

Ruth Beckermann ist ebenfalls feministisch-antifaschistische Künstlerin. Sie hat sich mit experimentell-nachdenklichen und politisch aufklärerischen Filmen hervorgetan, zum Beispiel „Die Geträumten“ von 2016 und „Waldheims Walzer“ von 2018. Sie ist zuweilen ähnlich unbequem mit ihren Filmen, wie Elfriede ­Jelinek in ihrer klartextigen Literatur. Entsprechend beschäftigt sich Beckermanns aktueller Film „Mutzenbacher“ mit dem erotisch-pädophilen Roman „Josefine Mutzenbacher“ von 1906, der „als wienerische Literatur von Weltrang gilt“ (aus dem ­Viennale-Katalog). Hier also als weitere Parallele zu Jelinek die Literatur selbst. Und wie Jelinek in ihrer Kunst, wählt auch Beckermann den unbequemen Umweg, um ihre Message zu verdeutlichen, nicht die geradlinige Abkürzung der Verfilmung des beliebten Klassikers. Der Film zeigt keine naive oder sexbesessene (je nach Lust und Laune der meist männlichen Betrachtung) Jugendliche, die sich vor alten Männern entblößt oder von ihnen missbraucht wird (auch das je nach Lust und Laune der subjektiven Betrachtung), sondern lässt Männer jeden Alters – die meisten ohne jegliche Schauspielerfahrung – auf einem altertümlichen Prunksofa platznehmen, wobei diese dann angewiesen werden, abwechselnd von sich beziehungsweise ihren Romaneindrücken zu erzählen beziehungsweise auch Passagen daraus vorzulesen. Die Männer, die sich auf eine Castingannonce gemeldet hatten, erzählen und erzählen und erzählen, 101 Minuten lang, von ihren Assoziationen mit der Couch, von sich, ihren sexuellen Erfahrungen, wie sie sich als Männer von den heutigen weiblichen Ansprüchen abgelehnt sehen, wie sie sich von der alten Pornoliteratur angezogen, abgestoßen oder herausgefordert fühlen etc. etc. Und immer mal wieder gibt Beckermann zwischendurch Regieanweisungen, wenn sie die Männer bittet, miteinander in Kontakt zu treten, etwas zusammen zu lesen, sich dabei einander zu nähern. Der Film ist brutal realistisch, zum Beispiel, wenn einige Männer zugeben, dass sie sich eine Beziehung zu einer Minderjährigen, über die man frei und/oder billig verfügen könne, auch heute für sich wünschten. Die Frage, wie das Mädchen dabei wohl empfände, war vielen fremd, so etwas hatten sie sich noch nie gefragt. Sie waren davon ausgegangen, weil es im Roman heißt, dass sie die sexuellen Begegnungen suche beziehungsweise genieße, angeblich sogar selber als Erzählerin fungiere, dass das dann auch so wörtlich zu nehmen sei. Man also außer Acht lassen könne, dass wahrscheinlich ein Mann als Autor hinter dem anonymen Werk steckt, die Erlebnisse der „Wienerischen Dirne“, die sich angeblich an ihre sexuellen Erlebnisse in ihrer Kindheit erinnert, den Phantasien eines männlichen Autors entspringen. Andererseits gab es unter den für den Film und im Film gecasteten Darstellern auch jene, die Mitgefühl mit der Minderjährigen hatten und sich in ihre vergewaltigte Lage hineinversetzten. Zwiespältiges Thema, zwiespältige Umsetzung, trotzdem sehenswert, da der Film zur Auseinandersetzung mit dem Pornoroman und unseren pädophil geprägten Gesellschaften anregt.

Von Anette Stührmann

Freie Journalistin und Autorin