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Empowerment

Was ich als Psychotherapeut von Feminist*innen, Black-Lives-Matter-Aktivist*innen und queeren Held*innen lerne.

Der Kampf gegen Ausbeutung, Diskriminierung und Rassismus hat etwas Befreiendes. Menschen lassen sich nicht mehr unterdrücken, sondern wollen ihr eigenes, selbstbestimmtes Leben führen. Darum geht es auch in der Psychotherapie. Wenn Menschen in die Therapie kommen, haben sie oft falsche Vorstellungen. Sie glauben, dass immer über Probleme oder über die Herkunftsfamilie gesprochen werden soll. Zwar kann das Aussprechen von Problemen heilsam sein, doch wir sollten dabei nicht stehen bleiben. Denn Psychotherapie hat auch viel mit Empowerment zu tun. Der Begriff kommt von amerikanischen Emanzipationsbewegungen, wie der Black-Power-Bewegung, und lässt sich mit „Selbstermächtigung“ und „Selbstbefähigung“ übersetzen. Gemeint ist, dass Menschen nicht mehr andere über ihr Leben bestimmen lassen. Sie werden aktiv, schließen sich in Gruppen zusammen. Sie besinnen sich auf ihre eigenen Ressourcen und Fähigkeiten, sie ermutigen sich gegenseitig und gewinnen an Stärke, um sich für ihre eigenen Interessen und für ihre Bedürfnisse einzusetzen.

Selbstentfaltung

Was in großen Bewegungen und Communities möglich ist, kann auch im kleineren Rahmen, wie etwa in der Psychotherapie, wirksam sein. Denn auch hier werden Prozesse von Empowerment angeregt, wie dieses fiktives Beispiel zeigt: Eine Person kommt mit Schlafproblemen und depressiven Symptomen in die Therapie. Zu Beginn werden verschiedene Entspannungstechniken ausprobiert. Doch das hilft nicht weiter. Im Zuge der Therapie stellt sich heraus, dass die Person mit dem Studium unzufrieden ist, weil sie künftig in diesem Bereich nicht arbeiten will. Gleichzeitig hat die Person große Angst, dass Studium abzubrechen, um die Eltern und das soziale Umfeld nicht zu enttäuschen. Die Eltern sind Akademiker*innen. Ihnen ist es wichtig, dass ihre Kinder einen ähnlichen Weg einschlagen. Sie bezahlen für das Studium und machen entsprechend Druck. Im Zuge der Psychotherapie geht es darum, dass sich die Person von diesem Druck löst. Gleichzeitig werden neue Denkprozesse und Perspektiven angeregt, um einen Prozess der Selbstentfaltung zu fördern. Die Person äußert den Wunsch, einmal für einige Monate ins Ausland zu gehen. Die Eltern sind dagegen. Daher nimmt die Person einen Ferienjob an, um die Reise zu finanzieren. Die Reise bringt den Wendepunkt. Im Ausland lernt die Person viele Menschen kennen. Sie findet neue Ideen und Inspirationen für das berufliche und private Leben. Die Person arbeitet nun bei einer NGO. Alleine hätte die Person die Neuorientierung nicht gewagt. Doch in der Psychotherapie erhält sie die notwendige Unterstützung und Begleitung. Schließlich sind auch die Eltern zufrieden, weil sie sehen, wie glücklich die Person jetzt ist.

Keine Fremdbestimmung

In der Psychotherapie geht es darum, sich Zeit zu nehmen, um sich selbst besser kennenzulernen, sich der eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Träume klar zu werden. Denn gerade ein allzu angepasstes und von den eigenen Bedürfnissen abgespaltenes Verhalten kann zu Depressionen oder anderen psychischen Problemen führen. Für mich steckt in der Psychotherapie auch ein gesellschaftskritisches und emanzipatorisches Potenzial. Denn viele psychischen Probleme hängen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zusammen. So haben das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Universität Bielefeld heuer eine Studie veröffentlicht, wonach in Deutschland LGBTIQ*-Personen dreimal so häufig an Depressionen und Burnout erkranken als der Rest der Bevölkerung. Für Österreich liegen dazu keine Zahlen vor. Aber es ist davon auszugehen, dass bei uns die Situation ähnlich ist wie in Deutschland. Auslöser dafür sind nach Angaben der Studienautor*innen die Ablehnung und Diskriminierung, die LGBTIQ*-Personen noch immer in verschiedenen Lebenssituationen erfahren. Das bedeutet im Klartext: LGBTIQ*-Personen müssen sich nicht ändern, sondern bei den gesellschaftlichen Verhältnissen besteht Handlungsbedarf.

Gesellschaftlicher Druck

Frauen, egal ob Heteras oder auf dem queeren Spektrum, trifft es im Allgemeinen besonders: So werden viele psychischen Probleme durch patriarchale Muster und durch den weit verbreiteten Sexismus ausgelöst. Auch hier müssen sich nicht die Frauen, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Wie eng psychische Krankheiten und das gesellschaftliche Umfeld zusammenhängen, zeigt sich beispielsweise bei Ess-Störungen. Diese treten verstärkt bei Frauen in westlichen Industrieländern auf. Ursache dafür ist unter anderem der Schlankheitswahn. Denn in der Werbung werden dünne Frauen als attraktiv und erfolgreich bewertet. Es ist nicht einfach, sich solchen gesellschaftlichen Trends zu entziehen. Denn sexistische Werbeformate sind allgegenwärtig. Auch schwule Männer erkranken häufig an Ess-Störungen. Dies ist auf übertriebene Schönheitsideale (jung, sportlich, männlich) in Teilen der schwulen Szene und auf schwulen Dating-Plattformen zurückzuführen. Kommen Menschen in die Psychotherapie, weil sie darunter leiden, wird der Fokus auf die Stärkung des Selbstbewusstseins gelegt. Wir können Widerstand leisten. Wir müssen uns nicht von ungesunden gesellschaftlichen Trends abhängig machen. Wir müssen auch keinen bestimmten Körper haben, um uns schön zu fühlen. Wir können vielmehr unser eigenes Wohlfühlgewicht entwickeln. Dabei kann es hilfreich sein, einen achtsamen Umgang mit sich selbst zu pflegen und die Bedürfnisse des eigenen Körpers besser wahrzunehmen. Je mehr wir zu uns selbst stehen können, umso leichter können wir uns gegen ungesunde Einflüssen von außen – wie den Schönheitsidealen in der Werbung oder dem ständigen Erfolgsdruck – abgrenzen.

Kleine Änderungen können viel bewirken

Die Ursachen von psychischen Erkrankungen können oft komplex und vielschichtig sein. Dennoch halte ich es für wichtig, dass in der Psychotherapie auch gesellschaftliche Faktoren, die zu psychischen Problemen führen können, angesprochen werden. Dies kann entlastend wirken und einen Nachdenkprozess anregen. Schließlich befinden sich viele Menschen in einem Hamsterrad. Sie kommen oft mit dem Wunsch in die Therapie, möglichst schnell wieder funktionieren zu können. Gerade in der neoliberalen Gesellschaft steigt der Druck auf die Selbstoptimierung. Menschen fühlen sich als Versager*innen, weil sie den gesellschaftlichen Vorgaben und Idealen nicht entsprechen. Doch Psychotherapie ist keine „Reparaturwerkstätte“, um wieder funktionstüchtig für das Hamsterrad zu sein. Vielmehr sollten wir uns fragen, ob wir bei allen gesellschaftlichen Trends mitmachen müssen. Jede Person kann für sich eigene Wege der Veränderung finden. Dabei können auch schon kleine Änderungen viel bewirken.

Sich vernetzen

Empowerment bedeutet auch, sich mit Menschen, denen es ähnlich geht, zu vernetzen. In der neoliberalen Gesellschaft gibt es einen starken Hang, sich mit anderen Personen zu vergleichen. Die Menschen sollen ständig in Konkurrenz zueinander sein. Umso wichtiger sind daher Communities und Orte, wo wir uns nicht verstellen müssen und wo wir uns gemeinsam für unsere Bedürfnisse und Interessen einsetzen können. Gerade für LGBTIQ*-Menschen sind solche Orte und Communities wertvoll. Ein Vorbild ist hier die HOSI Wien mit den vielen Gruppen und Initiativen, wie der Lesben*gruppe, die ihren 40. Geburtstag feiert. Meine herzlichen Glückwünsche!

Von Christian Höller

Christian Höller ist Psychotherapeut und hat eine Praxis in Wien.