Inhaltswarnung:
Jeweils als Zwischenüberschrift
Es ist kaum zu glauben, dass die Diagnose „Homosexualität“ erst 1990 aus dem Diagnosemanual für psychische Störungen gestrichen wurde, welches in regelmäßigen Abständen von der WHO (World Health Organisation) herausgegeben wird. Derzeit befinden wir uns im Übergang vom ICD-10 (International Classification of Disease, 10. Ausgabe) zu ICD-11. Erst mit dem ICD-11 ging die WHO den schon lange überfälligen Schritt auch die Diagnose „Transidentität“ aus dem Unterkapitel „Störungen der Geschlechtsidentität“ zu streichen.
Auch wenn queer sein per se mit dem endgültigen Übergang zum ICD-11 keine psychische Störung mehr sein wird, haben queere Personen dennoch ein erhöhtes Risiko, an verschiedenen psychischen Störungen zu erkranken. Doch warum ist das so, auf welche psychischen Störungen trifft dies konkret zu und welche Anlaufstellen gibt es?
Warum erkranken queere Personen häufiger?
Bei der Entstehung von psychischen Störungen geht man vom biopsychosozialen Modell aus. Das bedeutet, dass biologische Ursachen (Gene, Hormone, Stoffwechsel), psychische Ursachen (kognitive Denkmuster, Einstellungen, emotionale Stabilität) und soziale Ursachen (soziale Unterstützung, Arbeitsbedingungen, kulturelle Aspekte) gemeinsam darüber entscheiden, wie wahrscheinlich eine Person eine psychische Störung entwickelt. Bei queeren Personen scheint vor allem die soziale Komponente relevant zu sein, da wir nach wie vor in einer cis-heteronormativen Welt leben und queere Personen somit einer Minderheit angehören.
Diskriminierungserfahrungen, Vorurteile, Stigmata, Hassverbrechen, das Verstecken der eigenen Identität oder ein negatives Selbstbild führen zu einem erhöhten Stresslevel, wie das Minority Stress Model beschreibt. In diesem wird davon ausgegangen, dass Personen, die Minderheiten angehören, spezifischem chronischen Stress ausgesetzt sind, eben weil sie dieser Minderheit angehören. Diese spezifischen Stressoren kommen zum Alltagsstress, dem alle Personen manchmal ausgesetzt sind, hinzu. Da Stress wiederum ein Risikofaktor für psychische Störungen ist, kann das Modell die erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit psychischer Störungen teilweise erklären.
Auch ein negatives Selbstbild ist ein Risikofaktor für viele psychische Störungen und kann aus internalisierter Queerfeindlichkeit resultieren. Das bedeutet, dass eine queere Person die negativen Ansichten der Allgemeinbevölkerung über die eigene sexuelle oder Geschlechtsidentität übernimmt.
Auch potenzielle Bindungsabbrüche im nahen Umfeld, soziale Isolation durch ein Coming-out, soziale Unsichtbarkeit von manchen queeren Identitäten (z.B. Bisexualität, Non-Binary, Ace-Spektrum), Schwierigkeiten in der Identitätsfindung, ein erhöhtes Risiko für Mobbing und ein erhöhtes Risiko für sexuelle sowie physische Übergriffe können zur Entstehung psychischer Störungen beitragen.
Ein erhöhtes Risiko aufgrund der queeren Identität bedeutet für den Einzelnen jedoch noch nichts. Jedoch soll dieser Artikel einen Anstoß geben, bei sich selbst und den eigenen Freund:innen mal näher hinzugucken.
Um welche psychischen Störungen geht es konkret?
Es gibt österreichweit allgemeine und spezialisierte Anlaufstellen bei Schwierigkeiten. Bei akuter Symptomatik kann man sich in Allgemein Psychiatrischen Abteilungen in Krankenhäusern vorstellen. Auch die PSD (Psychosoziale Dienste) sind eine gute Anlaufstelle mit breitem Angebot, u.a. sozialpsychiatrische Ambulatorien und spezialisierte Tageszentren. Bei akuten Krisen kann das Kriseninterventionszentrum empfohlen werden. Die Beratungsstelle Courage (Windmühlgasse 15,1060 Wien) ist eine allgemeine queere Beratungsstelle.
Ambulante psychologische Therapie ist leider großteils noch eine Privatleistung. Es gibt jedoch die Möglichkeit, über die Krankenkasse einen Teil der Kosten rückerstattet zu bekommen. Bei Psychotherapie gibt es hingegen Kassenplätze. Auf der Homepage der WGPV (Wiener Gesellschaft für Psychotherapeutische Versorgung) gibt es links oben einen Button namens „Suchen Sie einen Psychotherapeuten?“, wo man mithilfe verschiedener Kriterien nach freien Kassenstellen suchen kann. Zum besseren Finden einer ambulanten Therapie ohne vollständige Kostenübernahme kann man über Psychnet (klinische Psychologie) oder Psyonline (Psychotherapie) nach freien Plätzen suchen. Dies ist in der Regel mit deutlich kürzeren Wartezeiten verbunden.
In der Praxis kommt es häufig vor, dass mehrere psychische Störungen gleichzeitig vorhanden sind, die sich gegenseitig beeinflussen. So kann eine Person mit Depression zusätzlich eine Sucht (=maladaptive Bewältigungsstrategie der Depression) entwickeln oder eine Person mit Angststörung kann aufgrund eines Vermeidungsverhalten zusätzlich eine Depression entwickeln. Die häufigsten psychischen Störungen werden nun kurz vorgestellt und dazu passende Anlaufstellen genannt.
Angststörungen
Studien haben ergeben, dass queere Personen ein dreifach erhöhtes Risiko haben, eine Angststörung zu entwickeln. Häufige Angststörungen sind die generalisierte Angststörung, die Panikstörung und die soziale Angststörung.
Bei der Panikstörung kommt es immer wieder und ohne konkreten Auslöser zu Panikattacken mit Symptomen wie Herzrasen, Brustschmerz, Erstickungsgefühlen, Schwindel, Kontrollverlust oder der Furcht zu sterben. Bei der generalisierten Angststörung kommt es zu einer schwächeren, jedoch anhaltenden Angst, die nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt ist, sondern viele verschiedene Bereiche betrifft. Man könnte sie als eine intensive Sorge um viele verschiedene Themen beschreiben. Die Soziale Angststörung/Sozialphobie bezeichnet eine Furcht vor prüfender Bewertung durch andere Menschen, die zur Vermeidung sozialer Situationen führt. Typische Symptome sind Erröten, Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen in manchen sozialen Situationen, typische Situationen sind beispielsweise das Halten einer Präsentation oder Bewerbungsgespräche.
Bei einer ambulanten psychologischen Therapie wird die Angst Schritt für Schritt bearbeitet. Ein Beispiel für eine spezialisierte Einrichtung ist Phobius, welche mehrere Anlaufstellen in Österreich hat.
Traumafolgestörungen
Queere Personen sind aufgrund von Diskriminierungserfahrungen zwei- bis viermal gefährdeter, eine traumatische Erfahrung zu erleben. Unter Trauma wird eine seelische Verletzung verstanden, die die Unversehrtheit eines Menschen bedroht, in extreme Angst versetzt und die vorhandenen Bewältigungsstrategien übersteigt. Beispiele für mögliche traumatische Erfahrungen sind sexuelle bzw. physische Missbrauchserfahrungen, Mobbing, Vernachlässigung, Krieg sowie Naturkatastrophen und Unfälle.
Eine potenziell traumatische Erfahrung bedeutet jedoch noch nicht, dass man eine Traumafolgestörung entwickelt; in den allermeisten Fällen können diese gut verarbeitet werden. Eine kurzzeitige akute Belastungsreaktion nach einem potenziell traumatischen Ereignis mit Symptomen wie Angst, Unruhe, Desorientierung, Herzrasen oder Schwitzen wird als normale Reaktion eingestuft.
Wenn diese Symptome nicht nach einiger Zeit (=einige Tage bis wenige Wochen) wieder abklingen, kann sich in den folgenden Wochen und Monaten eine PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) entwickeln. Diese ist gekennzeichnet durch Flashbacks (intensives Wiedererleben) der traumatischen Situation, Übererregung sowie Vermeidungsverhalten von belastenden Situationen und sollte in einer psychologischen Therapie behandelt werden. Deshalb ist es besonders wichtig, dass potenziell traumatische Ereignisse schnell und effektiv bearbeitet werden, um so der Entstehung einer PTBS präventiv entgegenzuwirken.
Bei Suche nach einer psychologischen Therapie ist es wichtig, darauf zu achten, dass der/die klinische Psycholog:in einen Trauma-Schwerpunkt hat. Eine Traumatherapie kann entweder ambulant oder stationär erfolgen. Beispiele für stationäre Therapieeinrichtungen sind das Therapiezentrum Ybbs oder die Klinik Eggenburg.
Sucht
Queer-spezifische Diskriminierungserfahrungen können auch die Entwicklung einer Sucht begünstigen, wenn angemessene Bewältigungsstrategien fehlen oder nicht ausreichen. Süchte entstehen oft aus dem Wunsch heraus, belastende Situationen/Ereignisse erträglicher zu machen. Auf die kurzfristige Erleichterung folgen jedoch schwere Langzeitfolgen. Hinweise für eine Sucht sind ein starker Konsumdrang, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung (stetige Steigerung der Dosis, um denselben Effekt zu haben), körperliche Entzugssymptome, Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Konsums sowie anhaltender Konsum trotz negativer Folgeschäden (körperlich, psychisch, sozial). Während die meisten Menschen beim Thema Sucht an illegale Substanzen wie Heroin, Kokain, LSD oder Cannabis denken, wird vor allem die Gefahr von starkem Alkoholkonsum für die Gesundheit oft unterschätzt. Auch stoffungebundene Süchte wie Spielsucht, Kaufsucht oder Sexsucht werden oft übersehen.
Bei Sorge, dass man eine Sucht entwickelt haben könnte, können Suchtberatungsstellen wie die Suchthilfe Wien, der Verein Dialog oder der Verein P.A.S.S. wertvolle unverbindliche Tipps geben.
Essstörungen
Anhaltender Stress, das Gefühl von Kontrollverlust, ein negatives Selbstbild, eine Körperschemastörung (=stark verzerrte Sicht auf den eigenen Körper) sowie Identitätskonflikte sind Risikofaktoren für eine Essstörung. Innerhalb der queeren Community sind besonders häufig Männer, die Sex mit Männern haben, (MSM) und trans+ Personen betroffen.
Bei MSM liegt dies vor allem an den stark propagierten Körperidealen (junger, schlanker, muskulöser Körper) innerhalb der schwulen Community, die ein gestörtes Essverhalten hervorrufen können. Bei trans+ ist die Geschlechtsdysphorie ein Risikofaktor, die eine Diskrepanz zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und der Geschlechtsidentität beschreibt. Aufgrund dieser Geschlechtsdysphorie wird teils versucht, mittels kontrolliertem Essen den eigenen Körper zu verändern oder es werden Bedürfnisse unterdrückt, um sich vom eigenen Körper zu distanzieren.
Die am häufigsten vorkommenden Essstörungen sind die Anorexie, die Bulimie sowie die Binge Eating Disorder. Die Anorexie ist durch einen absichtlichen und selbst herbeigeführten Gewichtsverlust sowie einer starken Furcht vor Gewichtszunahme charakterisiert. Personen mit Bulimie oder Binge Eating Disorder haben wiederkehrende Essattacken, oft bei starker Emotionalität, und berichten von Kontrollverlust in Bezug auf die Nahrungsaufnahme. Bei Bulimie kommen anschließende Gegenmaßnahmen wie Erbrechen oder das Einnehmen von Medikamenten mit abführender Wirkung hinzu, bei der Binge Eating Disorder bleiben diese aus.
Bei Verdacht, eine Essstörung entwickelt zu haben, können spezialisierte Einrichtungen wie „sowhat – Kompetenzzentrum für Essstörungen“ oder „intakt – Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen“ informieren und unterstützen.
Suizidalität
Suizidalität ist keine psychiatrische Diagnose an sich, sondern kann eine Begleitsymptomatik vieler psychischer Störungen sein. Suizidgedanken in Krisensituationen oder bei länger andauernder psychischer Belastung sind keine Seltenheit. Queere Personen fühlen sich doppelt so häufig suizidal und begehen viermal häufiger Suizidversuche als cis-heterosexuelle Personen. Oft sind Suizidgedanken jedoch kein wirklicher Wunsch zu sterben, sondern drücken einen starken Wunsch nach Veränderung aus. Mit diesen belastenden Gedanken sollte man keinesfalls alleine bleiben! Mit einer anderen Person darüber zu sprechen hilft und kann deutlich entlasten. Das können entweder Vertrauenspersonen wie Freund:innen, Familienmitglieder, Arbeitskolleg:innen und auch Fachpersonal wie klinische Psycholog:innen oder Krisentelefone sein.
Wenn man den Verdacht hat, dass eine nahestehende Person Suizidgedanken haben könnte, ist verständlicherweise eine gewisse Scheu da, dies offen anzusprechen. Oftmals haben Angehörige Angst, die betroffene Person erst auf solche Gedanken zu bringen. Allerdings ist es sehr wichtig, diese Sorge offen anzusprechen. Wenn keine Suizidalität da ist, ist man selbst beruhigt. Falls sich das Verdacht jedoch bestätigt, wird sich die betroffene Person durch das Gespräch deutlich entlastet fühlen und es können gemeinsam nächste Schritte besprochen werden.
Notrufnummern bei Suizidgedanken
Telefonseelsorge (142): täglich 0-24h, gilt als Notruf, gratis, Telefon-, Mail- und Chatberatung, anonym
Ö3-Kummernummer (116123): gratis, anonym, täglich von 16-24h.
Bei sich aufdrängenden, als unkontrollierbar erlebten Suizidgedanken sollte die Rettung (144) alarmiert werden.
Depressionen
Der Vollständigkeit halber werden an dieser Stelle auch depressive Störungen erwähnt. Da es in dieser Ausgabe noch einen eigenen Artikel dazu gibt, wird darauf nicht weiter eingegangen.
Queerspezifische Schutzfaktoren
Oft kann es helfen, bei Unsicherheit, ob vielleicht eine psychische Störung vorliegen könnte, mal mit einer Fachperson zu sprechen. Bei der Suche nach einer geeigneten Therapie ist es sinnvoll, darauf zu achten, dass der/die klinische Psycholog:in queersensibel ist und genügend Informationen über queere Lebensrealitäten hat. Manche klinischen Psycholog:innen haben dies auf ihrer Homepage vermerkt, jedoch gibt es leider keine Liste für queer-sensible klinische Psycholog:innen.
Auch wenn jetzt ganz viel über queerspezifische Risikofaktoren für psychische Störungen geschrieben wurde, ist es sehr wichtig zu ergänzen, dass es auch queerspezifische Schutzfaktoren gibt, die queere Personen davor bewahren können, psychische Störungen zu entwickeln. Zum einen kann die Zugehörigkeit zur queeren Community für gute und stabile soziale Bindungen sorgen. „Queer Spaces“ wie das Gugg in Wien sind ein guter Anlaufpunkt, um in einem sicheren Umfeld man selbst sein zu können. Hier kann man nicht nur Gleichgesinnte finden, sondern Hilfe bei der Selbstfindung erhalten. Vor allem in Wien gibt es ein breites Angebot an Veranstaltungen, um Anschluss zu finden und Leute aus der eigenen Community kennen zu lernen. Außerdem berichten viele queere Personen nach einer oft langen Suche nach der eigenen Zugehörigkeit von einer höheren Selbstakzeptanz, einem stabileren Selbstbild und einem besseren Selbstwert.
Zudem ist es wichtig, Resilienz aufzubauen, da so die negativen Effekte des Minderheitenstresses ausgeglichen werden können. Resilienz ist die psychische Widerstandsfähigkeit, also die Fähigkeit, schwierige Situationen zu bewältigen, ohne eine psychische Störung zu entwickeln. Resiliente Personen können sich leichter von Rückschlägen erholen und sich an veränderte Umstände besser anpassen. Um resilienter zu werden, kann man sich zum Beispiel in Dankbarkeit üben, soziale Bindungen aufbauen, für sich passende Entspannungsmethoden finden und die eigenen Kommunikationsfähigkeiten verbessern. Die gute Nachricht dabei ist, dass Resilienz veränderbar und somit auch erlernbar ist. Ein Resilienztraining kann somit ein Ziel einer psychologischen Therapie sein.
Wenn sich jemand in den Beschreibungen der häufigsten psychischen Störungen innerhalb der queeren Community wiedergefunden hat, hat dieser Artikel hoffentlich einige Informationen gegeben, wohin man sich mit welchen Schwierigkeiten wenden kann.
