Die Frühzeit von AIDS in Österreich und die HOSI Wien.
Am 11. März 1983 wurde im Ö1-Abendjournal erstmals über zwei schwule Männer berichtet, die in Wien an AIDS verstorbenen waren. Ein medialer Sturm brach los und die Gesundheitsbehörden aber auch die bisher in Bezug auf AIDS zurückhaltende Bewegung sahen sich veranlasst, auf diesen „geschichtlichen Bruch“, wie es der Philosoph Alexander Garciá Düttmann formulierte, zu reagieren. Die HOSI Wien war zu diesem Zeitpunkt gerade etwas mehr als zwei Jahre alt, die Rosa Lila Villa war mit der erst kürzlich erfolgten Instandbesetzung des Hauses an der Linken Wienzeile beschäftigt, die Lesbenbewegung desinteressiert, denn die Hauptbetroffenengruppe waren schwule Männer. Der Wissensstand über die tödliche Bedrohung, die erst seit kurzem AIDS hieß, war gering.
Wie alles begann
In den USA hatten bereits 1981 Mediziner die Häufung einer seltenen Form von Lungenentzündung beschrieben, die unter schwulen Männern in San Francisco und New York auftrat. In Zusammenhang mit anderen seltenen opportunistischen Erkrankungen wie dem Kaposi-Sarkom sprach man von Gay-Related Immune Deficiency (GRID). Damit war die Stigmatisierung und das Othering gegenüber der Gruppe der homosexuellen Männer verbunden, denn selbst medizinische Fachzeitschriften schilderte AIDS als eine ‚Homo-Seuche‘ oder ‚Homosexuellen-Krankheit‘. Bald wurden auch andere Minderheiten wie Drogenkonsument*innen, Haitianer und Hämophile als Krankheitsüberträger identifiziert. Ende Juli 1982 einigte man sich auf die Bezeichnung Acquired Immune Deficiency Syndrome (AIDS), homosexuelle Männer blieben aber vorerst die hauptbetroffene Gruppe.
Im deutschsprachigen Raum berichtete zuerst Der Spiegel Ende Mai 1982 über den „Schreck von drüben“ und meinte damit die USA über dem großen Teich. In Österreich folgte der Kurier Ende September 1982 mit einer kurzen, im Ton durchaus sachlichen, Nachricht. Die HOSI Wien reagierte auf die Berichterstattung – vor allem des Spiegels – abwehrend und aufgebracht. Man kritisierte die „antihomosexuelle Tendenz“ der „sensationsgeilen Nachrichten“, mit denen „die Medien den Homosexuellen ein neues Stigma verpassen wollen.“
AIDS kommt in Österreich an
Der dem 11. März folgenden medialen Angstmache wollte die HOSI Wien mit Aufklärung entgegenwirken. Innerhalb von zwei Wochen (!!!) wurde die erste Informationsbroschüre über AIDS in Europa produziert. Mit dem Arzt Reinhardt Brandstätter hatte die HOSI Wien als Vize-Obmann einen im Wiener Gesundheitswesen gut vernetzten Kommunikator im Team, der prominente Co-Autoren gewinnen konnte: die Universitätsprofessoren Christian Kunz (Vorstand des Instituts für Virologie) und Klaus Wolff (Vorstand der Universitäts-Hautklinik), den Psychiater Walter Dekan und den Wiener Stadtrat für Gesundheit und Soziales Alois Stacher, der – selbst Facharzt und Universitätsprofessor für Innere Medizin – den Druck der in der schwulen Community in einer Auflage von 8000 Stück verteilten Broschüre finanzierte.
Das Wissen über AIDS war beschränkt; es war noch nicht einmal sicher, ob ein Virus die Erkrankung auslöste und wie die Übertragungswege waren. Auf fünf eng bedruckten Spalten eines Leporellos stellten die Autoren, wie sie selbst schrieben, „Ursachen, Thesen, Vermutungen, Gerüchte“ über AIDS zusammen. Als Basis dienten ihnen die Veröffentlichungen der US-Bundesbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC). Die vom Virologen Christian Kunz formulierte These, dass bei „einer Übertragung durch ein Virus […] die Ansteckung dabei offenbar beim Geschlechtsverkehr und durch Blut oder Blutprodukte erfolgen könne“, führte auch zu ersten Empfehlungen, die präventiven Charakter hatten. Reinhardt Brandstätter präzisierte als Arzt und Aktivist die Vorschläge des Virologen: „Angst und Panik oder übertriebene Reduzierung der Sexualität oder Sexualfeindlichkeit sind keine geeigneten Mittel“, um die Verbreitung von AIDS zu verhindern. Denn die Antwort auf die medial verbreitete Angst – und damit sprach Brandstätter die betroffenen homosexuellen Männer direkt an – muss „unsere persönliche Emanzipation sein, unsere Selbstakzeptierung als Homosexuelle und das bewusste Leben unserer Homosexualität.“
Wenige Wochen nach dem Beginn des medialen Hypes wurden wichtige Grundzüge für die Präventionsarbeit der nächsten Jahre formuliert. Vermutete die HOSI Wien hinter der Berichterstattung über AIDS zunächst eine Verschwörung der Medien, die „den Homosexuellen ein neues Stigma verpassen wollen“, so wollte sie nun selbst eine „wissenschaftlich und ethisch exakte Darstellung garantieren.“ Gleichzeitig wurde betont, dass die Emanzipation der Homosexuellen maßgeblich für den Erfolg aller Maßnahmen gegen die Verbreitung von AIDS sein wird. Dieser Schulterschluss von Wissenschaft, Politik und Emanzipationsbewegung legte klar, dass alle beteiligten Akteure – Wissenschaft, Politik und Bewegung – Ausgrenzung und Stigmatisierung bekämpfen mussten, was in Anbetracht der Medienhetze keine leichte Aufgabe war.
Auf dem Weg zur Österreichischen AIDS-Hilfe
Trotz aller Skepsis gegenüber der Wissenschaft und der Pharmaindustrie schlug die HOSI „eine undogmatische und pragmatische Linie“ ein. Als Ende 1984 ein erster HIV-Antikörpertest zur Erprobung stand, gab es das Angebot an einer ersten HIV-Antikörper-Prävalenz-Studie teilzunehmen. Die HOSI Wien zögerte zunächst, ging aber publizistisch in die Offensive. In einem achtseitigen Artikel in den Lambda Nachrichten wurde „Alles Neue über AIDS“ ausgebreitet. Auch der Antikörpertest wurde zur Diskussion gestellt. Neben Fragen zur medizinischen Aussagekraft des Ergebnisses, waren es vor allem die psychologischen Folgen für positiv Getestete, die die HOSI Wien ins Zentrum rückte.
Letztendlich gab die HOSI Wien keine Empfehlung zum Test ab, sie fand aber mit zwei Forderungen bei den beteiligten Ärzten Unterstützung: Der Test sollte anonym sein und eine begleitende Studie sollte mögliche Co-Faktoren für eine Infektion erheben. Das Ergebnis war ernüchternd. Bei 68 (21,4 Prozent) der 318 Getesteten wurden Antikörper festgestellt. Die Auswertung eines Fragebogens zu möglichen Co-Faktoren ergab „als Hauptübertragungsweg den Analverkehr, wobei der rezeptive (passive) Partner weitaus gefährdeter ist als der aktive. Es zeigten sich außerdem hochsignifikante Korrelationen zwischen positivem Antikörperbefund und der Anzahl der Sexualpartner.“ Der promiske Lebensstil vieler homosexueller Männer war also ein wesentlicher Faktor für eine HIV-Infektion.
Einer der Schlüsse, die die HOSI Wien aus der Teststudie zog, war, dass „AIDS nicht nur ein medizinisches Problem, sondern auch eines der Schwulenbewegung“ ist. Für „alle Schwulen in diesem Land“ sei eine „starke Schwulenlobby von eminenter Bedeutung“, weil sie Einfluss auf die Gesundheitsbehörde nehmen könnte. Die Teilnahme an der Teststudie erwies sich als Door Opener, weil sich aus ihr eine Zusammenarbeit mit Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen ergab und weil die HOSI Wien bei allem Gremien, die irgendwas mit AIDS zu tun hatten, teilnehmen konnte. Die Aktivist*innen der HOSI Wien machten sich auf dem Weg in die Institutionen.
Brandstätter schlug die Gründung einer österreichischen AIDS-Hilfe in Form eines eigenen Vereins vor, in dessen Vorstand Vertreter des Ministeriums und der Schwulenbewegung sitzen sollten. „Dieser Verein soll als Puffer zwischen den Schwulen und den Behörden dienen.“ Die Aufgaben der AIDS-Hilfe wären professionelle Aufklärungs- und Informationsarbeit und die professionelle Beratung von schwulen Männern und anderen Betroffenen insbesondere nach einem positiven Antikörpertest. Ein beachtliches Detail für diese frühe Phase in der Geschichte von AIDS ist, dass in Brandstätters Papier auch schon die Organisation von freiwilligen Hilfsdiensten für AIDS-Patienten angedacht wurde. Gerade Selbsthilfegruppen sollten später in der Bewältigung der AIDS-Krise eine wichtige Rolle spielen. Für österreichische Verhältnisse ging alles sehr schnell. Am 29. August 1985 fand die Gründungsversammlung der Österreichischen AIDS-Hilfe (ÖAH) statt. Diese sollte zwar nach wenigen Jahren zerschlagen werden, aber das ist eine andere Geschichte…
Dieser Beitrag ist eine übersetzte, stark gekürzte und bearbeitete Fassung meines Aufsatzes „Gay & Lesbian Movement, Politics, and Media in the Early Days of AIDS in Austria“, in: COVID-19 and Pandemics in Austrian History, Contemporary Austrian Studies, Vol 32
Andreas Brunner
Wissenschaftlicher Leiter
Qwien – Zentrum für queere Kultur und Geschichte
